AGNOSTIC FRONT

„Get Loud!“ – der Titel des zwölften Albums von AGNOSTIC FRONT ist Verpflichtung und Versprechen zugleich. Sounds und Texte der Hardcore-Urgesteine aus New York kommen gewohnt bissig und direkt. Die Zeiten sind hart. Die Songs des Quintetts sind es auch.

Doch der Reihe nach, denn gegenwärtig spielt die Szene-Institution ihre „Victim In Pain 35th Anniversary Tour“. So lange liegt die Veröffentlichung des Debüts, das sich bis heute großer Beliebtheit erfreut, tatsächlich schon zurück: „Nach all den Jahren und all dem, was über diese Platte gesagt und geschrieben worden ist, kann ich sagen, dass es mich nicht überrascht, dass sich auch heute noch so viele Leute für „Victim In Pain“ begeistern“, äußert Frontmann Roger Miret. „Sie ist ein Klassiker, an dem man nicht vorbei kommt, wenn man Hardcore hört. In unserer Szene ist es zum Glück immer noch so, dass Leute, die neu dazu kommen und bestimmte Bands für sich entdecken, sie sich auch mit deren Vergangenheit beschäftigen und die früheren Alben hören wollen. Bei uns reicht die Vergangenheit zurück zu „Victim In Pain“. Wer etwas über AGNOSTIC FRONT wissen will, muss diese Platte hören.“

Die Musiker halten ihrem Einstand selbst ebenfalls die Treue und zählen, nach den Stücken befragt, die sie am liebsten live spielen, regelmäßig Tracks des Debüts auf: „Ich liebe dieses Album einfach“, so Roger. „Die Intensität von „Victim In Pain“ ist für mich einzigartig. Ich höre es bis heute sehr regelmäßig. Die vertonte Wut spiegelt die Essenz dessen wider, was und wer wir sind. Dazu kommt, dass ich mich an die Umstände seiner Entstehung und die damalige Zeit ganz genau erinnere. Wann immer ich die Stücke spiele, fühle ich mich mental in ihre Entstehungszeit zurück versetzt. Natürlich liebe ich auch unsere neuen Tracks und möchte sie auf unseren Konzerten spielen. Aus irgendeinem Grund sind es aber die „Victim In Pain“-Songs, die mir so viel bedeuten, dass ich sie immer spielen will.“ Das korrespondiert mit den Vorlieben bzw. Erwartungen der Fans:

„Da bestehen aber deutliche Unterschiede zwischen Amerika und Europa“, nimmt der Frontmann den Faden auf. „In Europa spielen wir gewöhnlich nur zwei oder drei Stücke aus unserer Frühphase. In Amerika sieht die Sache ganz anders aus. Hier spielen wir weitaus mehr Tracks von „Victim In Pain“ und „Cause For Alarm“. In Europa zu touren, gefällt mir deshalb fast besser, denn die Leute interessieren sich auch für neuere Songs. Die Mischung aus alten und neuen Tracks bietet mehr Möglichkeiten, das Set umzustellen. Amerika hingegen ist ein Land, in dem es um Tradition und Werte geht. Viele Leute scheinen nach unseren ersten beiden Alben aufgehört zu haben, die darauf folgenden wahr zu nehmen und wollen nur das hören, was sie kennen. Anders kann ich mir das nicht erklären. Wir geben unseren Fans natürlich, was sie wollen. Warum auch nicht? Es ist ein anderer Markt und der Unterschied zu unseren Shows in Europa sehr deutlich. Es freut mich, dass die Europäer so offen sind. Songs schreiben wir ja, um sie live zu spielen. In Amerika sind wir aber auch aus einem anderen Grund limitiert- der Auftrittszeit. Mehr als 40 oder maximal 45 Minuten sind zumeist nicht drin. Deshalb müssen wir die Songauswahl stärker eingrenzen. Auftritte in Europa dauern hingegen mindestens eine Stunde, was mehr Raum lässt, alle Phasen unserer Karriere zu berücksichtigen.“

Einblicke ich die imposante Karriere von AGNOSTIC FRONT bietet auch die Dokumentation „Godfathers Of Hardcore“, die via Bridge Nine inzwischen auch käuflich zu erwerben ist. In dem sehr persönlichen Film von Ian McFarland (ex-Bassist von Blood For Blood) werden auch die gesundheitlichen Probleme von Roger thematisiert: „Zu dieser Dokumentation muss man wissen, dass wir Ian volle kreative Freiheit gelassen haben“, so der Frontmann. „Ein Skript gab es nicht. Wir wussten weder, was er tun noch was er später auswählen würde. Während der Entstehungszeit haben wir keine Zwischenstände gesehen. So, wie allen anderen auch, ist uns erst die fertige Dokumentation vorgeführt worden. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich die Szenen über meine Gesundheit noch entfernen können. Da Ian so gute Arbeit geleistet hat, schien es mir aber nicht angemessen, seine Kreativität zu bescheiden. Über die Dokumentation hinweg erlebt man uns so, wie wir sind. Wir sind lustig, angespannt, haben Spaß und weinen, wenn es sein muss. Wie hätte ich das ändern können? Die gesundheitlichen Probleme sind Teil meines Lebens und ich muss damit umgehen. Seit der Film gedreht worden ist, habe ich einen zweiten leichten Herzinfarkt erlitten. Ich befinde mich in guter ärztlicher Betreuung und habe nun stets eine kleine Maschine mit mir, die mich überall auf der Welt überwacht. Wenn wir auf Tour sind, habe ich immer ein Ersatzgerät dabei. Meinen Kardiologen sehe ich alle sechs Monate. Zuletzt hat er mir mitgeteilt, dass sich mein Zustand wieder verbessert hat. Das ist eine gute Nachricht.“

Die große Sorge um seine Person lässt den Frontmann fast verlegen wirken: „Es ist ja nichts, was ich vorher öffentlich gemacht hatte. Deshalb sind so viele Leute überrascht worden. Woher sollten sie es auch wissen? Inzwischen ist das natürlich anders. Viele Leute sind besorgt, sprechen mich wie du darauf an und wollen wissen, ob ich okay bin. Über die Anteilnahme freue ich mich. Es stört mich nicht, Persönliches öffentlich zu teilen. Das habe ich ja schon mit meinem Buch („United & Strong – New York Hardcore – Mein Leben mit AGNOSTIC FRONT“ – Anm. d. Verf.) getan. Nachdem meine älteste Tochter Nadia den Film gesehen hat, ist sie anschließend zu Ian gegangen und hat sich dafür bedankt, dass er einen solch tollen Film über unsere Familie gedreht hat. Die Probleme, die thematisiert sind, gibt es in vielen Familien. Wir zeigen, dass man sie überwinden kann. Nicht nur so viele Leute sind von dieser offenen und ehrlichen Dokumentation überrascht, ich war es auch. Was Ian auf den Punkt gebracht hat, ist, dass die Show weitergeht – egal wie extrem die Umstände auch sind. Unsere Leidenschaft treibt uns an. Die Leute um mich herum sind meine Familie. Die Bühne ist unser Zuhause.“

Sich zurück zu nehmen, ist für Roger keine Option. Das liegt nicht in seiner Natur. Mit „Get Loud!“ erscheint ein weiteres intensives, aggressives Album von AGNOSTIC FRONT: „Nur, weil ich nicht länger in besetzten Häusern lebe und kein verrückter, rebellierender Jugendlicher mehr bin, heißt das ja nicht, dass ich meine Erinnerungen verloren habe und nicht mehr wütend sein kann“, sagt der Frontmann mit Blick auf seine Motivationslage und die Attitüde der Songs. „Ich weiß, was es heißt, am Boden und bedrängt zu sein und keinen Ausweg mehr zu sehen. Hat man so etwas einmal erlebt, vergisst man das nicht mehr. Ich habe am eigenen Leib erlebt, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein. An all das erinnere ich mich, wenn ich heute Nachrichten schaue. Deshalb schreibe ich über diese Themen. Meine Erfahrungen werden anderen hoffentlich dabei helfen, ähnliche Situationen durch zu stehen. Ich weiß, wovon ich spreche. Zu Zeiten von „Victim In Pain“ ging es vor allem um die Verhältnisse um uns herum. Das Leben in besetzten Häusern und deren gefährliches Umfeld mit Gewalt, Drogendealern usw. haben unser Leben und unsere Themen bestimmt. Das ist zum Glück vorbei. Ich bin aber weiterhin aktiv, toure um die Welt und sehe, was vor sich geht. Bin ich nicht unterwegs, verfolge ich die Weltlage am Computer oder im Fernsehen. Themen, über die sich zu schreiben lohnt, finde ich überall.“

Mit dem neuen Album ist Roger, der „Get Loud!“ auch selbst produziert hat, zufrieden: „Die Eindrücke sind noch sehr frisch. Die Arbeit an den Songs haben wir erst vor knapp einem Monat beendet. Als ich die Songs jetzt mit etwas Abstand gehört habe, konnte ich es kaum fassen, dass wir immer noch so druckvoll und aggressiv klingen – selbst nach 37 Jahren. Ich habe mich gefragt, wie viele Bands so etwas von sich behaupten können. Wir hatten nur ein kurzes Zeitfenster, um das Album zu produzieren. In dieser Phase gab es unglaublich viel vor zu bereiten und zu koordinieren, was alles an mir hing. Ich hatte schlicht keine Zeit, zusätzlich auch noch einen Produzenten zu suchen. Also habe ich es selbst übernommen. Es ist ja nicht die erste Platte, die ich produziert habe, auch wenn das zuletzt seltener der Fall gewesen ist. Bei „Get Loud!“ hat es sich einfach wieder angeboten. Die Leidenschaft ist nach wie vor da.“ Und manchmal erleben selbst AGNOSTIC FRONT noch Premieren, wie es bei der „Persistence Tour 2020“ der Fall sein wird:

„Auf diese Tour freue ich mich sehr“, sagt Roger abschließend. „Auch wenn es kaum zu glauben ist, wird es das erste Mal sein, dass wir mit Gorilla Biscuits touren. Wir kennen uns schon so lange und sind eng befreundet. Das kann nur toll werden, zumal inzwischen auch noch weitere befreundete Bands (gemeint sind H2O und die Street Dogs  – Anm. d. Verf.) auf diese Tour gebucht worden sind.“

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