ATREYU

Die Kalifornier erfinden sich auf „Baptize“ ein Stück weit neu. Das liegt einerseits an Änderungen im Line-Up und einer dadurch bedingten anderen Anmutung. Andererseits daran, dass ATREYU auf ihre Qualitäten und ihr Bauchgespür vertrauen und deshalb groß auftrumpfen.

„Natürlich kann ich nur für mich sprechen, aber ich glaube, die anderen würden es auch so sehen und bestätigen: für mich ist das jetzt die aufregendste und beste Zeit mit der Band, seitdem ich dabei bin“, erwidert Bassist und Neu-Shouter Marc „Porter“ McKnight darauf angesprochen, dass der kalifornische Fünfer auf seinen aktuellen Fotos trotz des Ausstiegs von Frontmann Alex Varkatzas im Sommer 2020 so ungemein locker und verschworen wirkt. „Wir sind hungrig und würden mit diesem Line-Up lieber früher als später Shows spielen. Darauf warten wir und fiebern es herbei. Rückblickend wirkt es prophetisch, dass wir in dieser Konstellation bereits aufgetreten sind – 2019 bei Rock am Ring und Rock im Park. Alex stand damals kurzfristig nicht zur Verfügung. Uns war aber klar, dass wir diese großen Festivals nicht absagen konnten und nach Europa fliegen mussten. Wir haben nicht lange darüber nachdenken müssen, mit welchem Line-Up wir das tun. Brandon ist ein fabelhafter Frontmann, der weiß, was er zu tun hat. In seinem Fall paart sich eine große Stimme mit einem ausgeprägten Charisma. Er unterhält das Publikum, animiert es und füllt auch bei Hell Or Highwater die Rolle des Frontmanns aus. Zudem bringt er viel Erfahrung mit, nicht bloß von einem Projekt, sondern auch von einer tourenden Band. Nun brauchten wir allerdings einen Schlagzeuger als Ersatz für Brandon. Kyle Rosa ist schon lange Zeit ein guter Freund von uns und zählt zum direkten Umfeld von ATREYU. Er war unser Schlagzeug-Techniker und ist gemeinsam mit Brandon auch Teil von Hell Or Highwater. Ich selbst bin in allen Bands, denen ich vor ATREYU angehörte, Frontmann gewesen. Auch für mich ist es nicht neu, hinter dem Mirko zu stehen. Zudem singe ich bei ATREYU schon immer mehr, als es den Leuten bewusst ist und das seit meiner ersten Platte, die „A Death-Grip On Yesterday“ gewesen ist. Die Chemie zwischen Brandon und mir stimmt. Wir interagieren hervorragend miteinander und ergänzen uns gegenseitig perfekt. Wir sind wie Yin und Yang, um es so zu beschreiben. Brandon tritt laut, intuitiv und brachial in Erscheinung und reißt dabei alles nieder. Ich agiere etwas weniger auffällig, dafür aber überlegter. Zusammen wirkt das toll. Die Festival-Auftritte damals haben uns gezeigt, dass dieses Line-Up funktioniert. Und die Shows haben sich richtig gut angefühlt. Kyle ist ein fantastischer Schlagzeuger, auch wenn er anders als Brandon spielt, der direkt und brachial vorgeht. Kyle hingegen bringt einen eigenen Groove ein, aber ebenfalls viel Wut und Härte. Menschlich kommen wir alle super miteinander aus. Als sich dann die Vorzeichen verdichteten, dass es zu dem Ausstieg von Alex kommen würde, gab es nur eine Person, mit der wir gesprochen haben: Kyle.“

Die internen Lösungen lagen schließlich auf der Hand: „Die Mehrzahl der Bands hätte wohl einen Eins-zu-Eins-Tausch vorgenommen, also den einen durch einen anderen Sänger ausgewechselt, aber sonst nichts geändert“, vermutet Porter. „Wir hingegen schätzen die Möglichkeit, mehr als nur ein Element neu zu gestalten. Gleichwohl wollen wir uns Sound bewahren, für den wir bekannt sind. Die Fans sind schließlich mit einer bestimmten Richtung und Anmutung vertraut. Das wollen sie hören. Für uns bedeutet dies aber nicht, dass wir limitiert sind, was die Verteilung der Aufgaben anbelangt. Nun bin ich also für den Großteil der heftigen Vocals verantwortlich. Brandon übernimmt aber auch welche, und man hört ihn heraus. Vor allem aber singt er richtig gut. Da sich Kyle inzwischen nun schon seit fast einer Dekade in unserem direkten Umfeld bewegt, erscheint es uns gar nicht so, als hätten wir einen neuen Schlagzeuger. Auch daneben fühlt sich alles rund um das neue Album vertraut und natürlich an. Komisch ist allein, dass wir keine Live-Shows spielen können. Es hat den Live-Stream gegeben, aber das war eine eigenartige Erfahrung, die kaum vergleichbar ist. Wir wissen, dass wir in unserer derzeitigen Verfassung richtig gut drauf sind und würden das gerne beweisen. Leider ist das aktuell nicht möglich.“

Die offizielle Bestätigung des Abgangs von Alex im Sommer 2020 hat Raum für Spekulationen gelassen. Porter zufolge verlief alles friedlich: „Ohne zu sehr in die Details zu gehen – das alles hat sich für uns schon längere Zeit angedeutet und kam nicht überraschend. Es gab kein böses Blut, kein Drama und keinen Streit. Irgendwann war allen klar, dass wir und Alex getrennte Wege gehen würden. Vorüberlegungen, wie wir seinen Fortgang kompensieren würden, hat es nicht gegeben. Erst als es so weit war, haben wir uns zusammengesetzt und unsere Situation sowie die Optionen diskutiert. Schnell war klar, was Brandon und ich bezüglich des Gesangs einbringen können. Darauf haben wir uns dann ebenso schnell verständigt, wie darauf, Kyle einzubinden. Es gleicht einer glücklichen Fügung, dass wir 2019 alles schon einmal erfolgreich ausprobiert hatten.“ Auf dem achten Longplayer „Baptize“ lassen sich die Veränderungen nachvollziehen. Nur Kyle ist auf dieser Platte noch nicht zu hören:

„Ein Teil des Albums ist noch zusammen mit Alex entstanden“, erzählt der Bassist und Shouter. „Nur während der letzten Züge ist er dann nicht mehr dabei gewesen. Die Art und Weise, wie wir Songs schreiben, hat sich in all den Jahren kaum verändert. Eine Sache sind wir dieses Mal aber bewusst anders angegangen: partiell haben wir externe Co-Songwriter mit ins Boot geholt. Unser Produzent John Feldmann war der Ansicht, dass das in unserem Fall gut funktionieren würde, weil wir seiner Ansicht nach dafür offen seien. Anfangs musste ich mich mit diesem Gedanken anfreunden. Als eingefleischter Hardcore- und Metal-Anhänger wollte ich immer für alles selbst verantwortlich sein und war davon überzeugt, dass wir allein ausreichen und am besten wissen, was gut für uns ist, und das auch umsetzen können. Dann habe ich mit befreundeten Musikern anderer Bands darüber gesprochen, die davon berichten, wie oft sie schon mit anderen zusammengearbeitet haben und wie befruchtend das sei. Anschließend habe ich darüber recherchiert und festgestellt, dass weitaus mehr Künstler mit Co-Songwritern arbeiten, als ich es jemals für möglich gehalten habe. Und das nicht nur im Pop-Sektor. Warum sollte ich meinen Horizont einschränken, wenn die Arbeit mit anderen Kreativen ihn erweitern kann? Wir sind diesen Weg gegangen, und er hat sich ausgezahlt. Allein schon aufgrund der Hinweise und Fragen, ob man nicht auch einmal dies oder jenes ausprobieren sollte. Wir haben stark davon profitiert, dass uns andere dabei geholfen haben, den Blick zu weiten und partiell die Perspektive zu verändern. Im Ergebnis sind es ja trotzdem unsere Melodien, Lyrics, Emotionen und Songs. Die Songs, die wir nach dem Weggang von Alex geschrieben haben, waren allein in dem Punkt anders, als dass sich für Brandon und mich neue Verantwortlichkeiten ergeben haben. Zunächst mussten wir uns auf diese neue Rollenverteilung einstellen. Als ich 2004 zu ATREYU gestoßen bin, kam ich aus einer Gruppe, für die ich Sänger, Texter und Songwriter gewesen bin. Es war der Zeitpunkt, als sie „The Curse“ aufgenommen haben. Zunächst war ich ausschließlich Bassist. In den folgenden 16 Jahren habe ich mich bis heute immer stärker in die Kreativarbeit und zunehmend mehr Ideen für Gesang und Texte mit eingebracht. Das tut aber jeder von uns. Als Team arbeiten wir wirklich gut zusammen. Bei uns gibt nicht nur einer die Richtung vor. Die Veränderungen im Line-Up haben mich daran erinnert, welche Rollen ich früher in anderen Gruppen schon innehatte und dass ich mehr leisten kann. Das betrifft nicht nur den Gesang, sondern auch Ideen für Songs, Melodien oder Texte. Oft fällt mir spontan etwas während der kreativen Arbeit ein. Auf „Baptize“ hat das fast immer gut funktioniert und seinen Weg auf die Platte gefunden. Das motiviert mich, meine Einfälle künftig noch selbstbewusster einzubringen und zu vertreten. Was ich jetzt sage, ist angesichts der Tatsache, dass die Veröffentlichung des neuen Albums erst bevorsteht, vielleicht kontraproduktiv, doch am liebsten würde ich schon jetzt das nächste schreiben und direkt nachlegen. Wir werden von einer Welle getragen und sollten das Momentum nutzen. In dieser Konstellation ist meiner Meinung nach alles möglich. Auf „Baptize“ gibt es sogar Stücke, auf denen wir alle singen. So etwas hat es zuvor noch nicht gegeben. Das ist Ausdruck der tollen Stimmung, die bei uns vorherrscht. Wir sind alle ungemein stolz und wollen uns beweisen. Für Brandon und mich gilt das sogar noch etwas mehr, weil wir aus den Schatten ins Licht der Öffentlichkeit treten. Die Band nach all den Jahren so neu zu erleben, fühlt sich richtig gut an. Alles fließt und scheint sich wie von selbst ins Bild einzufügen.“

In der Tat, das Material von „Baptize“ kommt bestechend dynamisch daher und überzeugt mit einer natürlich ausbalancierten Mischung aus Härte und Eingängigkeit: „Das kann man so sagen“, stimmt Porter zu. „Auf unserem letzten Album „In Our Wake“ sind wir wieder mehr zu unseren Ursprüngen zurückgekehrt und haben nicht länger versucht, alles durchzuplanen. Wir sind wieder spontaner vorgegangen. Diese Arbeitsweise kommt mir sehr entgegen, denn genau das schätze ich auch im Alltag. Mir sagt es sehr zu, dass wir organisch und instinktiv arbeiten. In der Vergangenheit haben wir vereinzelt den Fehler begangen, die Dinge zu sehr einengen zu wollen. Wir haben zu viel nachgedacht, zu viele Demos angefertigt und uns unnötig unter Druck gesetzt. Doch wir sind gerade dann am besten, wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen und uns gut fühlen. Das haben wir dieses Mal getan.“ Der breit aufgesetzte Modern-Heavy-Sound mit Core-Kante bietet dafür stilistisch viele Ausdrucksmöglichkeiten:

„Meiner Ansicht nach sind ATREYU noch nie nur eine MetalCore-Band gewesen“, pflichtet Porter bei, darauf angesprochen, dass die Kalifornier zumeist unter dem für sie limitierenden MetalCore-Label gehandelt werden. „Wenn man unsere Veröffentlichungen aufmerksam hört, ist da immer mehr als nur MetalCore. Uns geht es von jeher darum, uns als Musiker und Songwriter heraus zu fordern, besser zu werden und immer ein Stück weiter zu kommen, was unsere Fähigkeiten und die Qualität unserer Songs anbelangt. Es ist ein Klischee, dass zu sagen, aber bei uns kommen vielfältige Einflüsse zusammen. Das Zusammenspiel dieser Einflüsse lässt einen einzigartigen Sound entstehen. Und wir schreiben kein Stück zwei Mal. Das haben wir sogar einmal versucht, aber das hat nicht funktioniert. Unsere Vergangenheit verleugnen wir nicht, doch wir entwickeln uns beständig weiter. An Kreativität besteht bei uns kein Mangel. Der Ausgangspunkt sind jeweils fünf Typen, doch das Ergebnis klingt immer unterschiedlich. Als wir „Baptize“ geschrieben haben, hätten wir locker noch Songs für drei weitere Platten fertigstellen können. Zu Zeiten von „In Our Wake“ war es genauso. Pro Tag haben wir im Schnitt zwei Tracks geschrieben. Sobald wir mit einem Album fertig sind, können wir es gar nicht glauben und fragen uns sogleich, wie wir nun unsere Kreativität ausleben sollen. Am liebsten würden wir direkt weiterarbeiten, aber das macht natürlich keinen Sinn. Also nehmen wir auf und schließen ein Kapitel ab.“

Apropos abschließen: dass sich Travis Miguel im vergangenen Jahr mehrfach für seine Zeit als Tour-Gitarrist von Trapt rechtfertigen musste, war innerhalb der Band kein Thema: „Für uns war das keine große Sache. ATREYU hatten damals eine Auszeit eingelegt und er hat bei Trapt ausgeholfen. Teil des regulären Line-Ups ist er nie gewesen. Der Grund, weshalb Travis in diese Geschichte hineingezogen wurde, ist, dass in der Berichterstattung über Chris Taylor Brown fast immer dasselbe Foto von Trapt herangezogen wird, auf dem er zu sehen ist. Abgesehen davon gibt es keine Beziehung zwischen ATREYU und Trapt. Travis steht aber weiterhin dazu, mit ihnen gespielt zu haben.“

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