SLEEPING WITH SIRENS

Chart-Erfolge und Rockstar-Status sind nicht alles. Auf „How It Feels To Be Lost“ verarbeiten SLEEPING WITH SIRENS den Zusammenbruch ihres Frontmanns Kellin Quinn, der auf der Tour zum Vorgänger „Gossip“ seinem Alkohol-Missbrauch Tribut zollen musste. Zur musikalisch heilen Welt zwischen Post-Rock und -Hardcore sowie Emo/Screamo-Pop passt das eigentlich nicht, doch das Quintett erfährt dadurch unverhofft Kredibilität und Belastbarkeit.

Für ein Interview stand allerdings nicht der Frontmann, sondern Nick Martin Rede und Antwort. Nach Stationen bei Underminded, Cinematic Sunrise, Isles & Glaciers und D.R.U.G.S. ist der Gitarrist 2013 zunächst als Tour-Musiker zu SLEEPING WITH SIRENS gestoßen, um später dann vollwertiges Band-Mitglied zu werden: „Ich bin ein Teil der MTV-Generation, für die es immer Musik-Videos aus dem Rock-Bereich zu sehen gab“, äußert Nick zu seinem persönlichen Hintergrund. „Ich bin mit Nirvana und Stone Temple Pilots, Green Day und Silverchair und all diesen Bands aufgewachsen, die mich letztlich dazu gebracht haben, selbst aktiv zu werden. Die Rock-Musik hat exakt in der Phase meines Lebens zu mir gesprochen, als ich ein wütendes Kind war. Da wusste ich, dass es genau das ist, was ich tun will und was ich tun muss. Inzwischen habe ich meinen Platz gefunden. Anfangs dauerte es ein paar Jahre, bis ich mich in die Band integriert hatte. Zunächst war ich ja nur angeheuert, um auf Tour auszuhelfen und das war es. Dann begann ich nach und nach, eine größere Rolle bei der Entscheidungsfindung innerhalb der Band zu spielen, was die geschäftlichen Dinge angeht. Dadurch habe ich mich unweigerlich viel mehr eingebracht. Das kam auch dadurch zustande, dass ich vorher schon in so vielen Bands gewesen bin und viele Jahre in und mit der Musik-Industrie verbracht habe. Die anderen haben mich dafür respektiert und mir vertraut. Das hat mich dorthin gebracht, wo ich jetzt bin“.

Nick Martin nimmt innerhalb der Fünfer-Besetzung eine wichtige Funktion ein und könnte für die anderen ein Vorbild sein: „Sie sagen mir immer, dass ich wie der Vater der Band bin. Ich bin der verantwortungsbewusste Typ, der früh ins Bett geht, auf seine Ernährung achtet und nicht zu viel trinkt. Den anderen hat diese Balance in die Band gefallen, denke ich. Es hat auch ihnen geholfen. Ich bin zudem ein bisschen älter. Es ist großartig, meinen Platz bei der Band gefunden zu haben“. Die ersten Kontakte kamen einst zufällig zustande: „Damals wusste ich nicht wirklich viel über die Band. Einige der Jungs hatte ich Jahre zuvor auf Tour kennengelernt, weil ihr Tour-Manager auch meine alte Band D.R.U.G.S. betreut hat“, erinnert sich Nick Martin. „Das hatten wir gemeinsam. Als dann ihr damaliger Gitarrist ein Baby bekommen hat und sie kurzfristig Ersatz benötigten, hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon einige Zeit lang keine Gitarre mehr gespielt und meine Karriere praktisch aufgegeben. SLEEPING WITH SIRENS hat mich dann zurück in die Musik gebracht. Kellin rief eines Tages bei mir an und sagte: „Hey Mann, wir brauchen jemanden in letzter Minute, der mit uns nach Europa kommt. Wir würden dich gerne haben, also lass es uns tun.“ Also antwortete ich: „Ich werde es tun!“ Da ich die Songs noch nicht kannte, habe ich all ihre Platten gehört, schnell die Songs gelernt und wurde ein großer Fan. Es war ein bezahlter Urlaub und wirklich cool, so in diese Band einzusteigen, mit ihnen zu touren und wieder Musik zu machen. Rückblickend ist es fantastisch, wie das alles für mich und uns gelaufen ist. Ich habe großes Glück, wie sich die Dinge aus dem Nichts heraus entwickelt haben“.

Die Stücke und Alben von SLEEPING WITH SIRENS fallen einerseits mit einer wagemutigen Poppigkeit, andererseits ob einer enormen stilistischen Bandbreite auf. Dem Gitarristen zufolge ist das kein Zufall: „Das Schöne an unserer Band ist, dass jeder so viele verschiedene Arten von Musik hört. Unser Schlagzeuger hört viel Hip Hop, unser Gitarrist viel Rock und Country und ich alten Rock, aber auch Mariachi und Punk-Rock. Kellin liebt Fleetwood Mac und Justin (Bass) Journey und die 80er Jahre. Wenn wir zusammenkommen und anfangen, zu arbeiten, gibt es viele verschiedene Ideen, aus denen wir schöpfen“. Das Quintett legt es darauf an, Genre-Grenzen zu weiten und seinen Sound voran zu treiben: „Ich habe das Gefühl, dass sich jeglicher Musik-Stil weiterentwickeln muss“, so Nick Martin. „In diesem Zusammenhang sprechen wir ständig über die Bands oder Musiker, die uns inspiriert und eine Rolle dabei gespielt haben, wer wir heute sind. Aber, mein Platz ist es, ich selbst zu sein und mich selbst zu anzutreiben, mich auf jede erdenkliche Weise zu entwickeln und nicht nur dem nachzueifern, was jemand schon vor mir getan hat. Mit unserer Musik will ich die Tradition nicht als Maßstab akzeptieren, sondern neue Wege gehen, damit jemand anderes nach mir kommen und sie wiederum weiter entwickeln kann. Ich denke, es ist offensichtlich, dass wir nur das tun, was wir tun wollen und was uns glücklich macht und die Emotionen, die wir in einem Moment erleben, richtig vermittelt. Ob schwer, chaotisch, kantig, populär oder entspannt – wir müssen nichts anderes sein als wir selbst“.

Der resultierende Sound umfasst u. a. Post-Rock und -Hardcore sowie Emo/Screamo-Pop: „Dies ist immer die am schwersten zu beantwortende Frage“, erwidert der Gitarrist darauf angesprochen, was SLEEPING WITH SIRENS aus seiner Sicht musikalisch darstellen. „Ich weiß nie, wie ich unseren Sound richtig beschreiben soll. Als Künstler denke ich auch nicht wirklich darüber nach. Das will ich schlicht nicht tun, denn das ist wie das Etikettieren von uns selbst. Und das ist das Letzte, was ich tun werde“. Der Titel des sechsten Longplayers – „How It Feels To Be Lost“ – lässt erahnen, dass der Fünfer nicht so frohgestimmt wie vor dem Zusammenbruch seines Frontmanns aufspielt. Die Songs sind düster und melancholisch gefärbt, wenn auch weiterhin gefällig und eingängig angelegt: „Es ist das brutalste und ehrlichste Album, das wir je gemacht haben“, so Nick Martin. „Nach dem Anhören wird das jede/r wissen. Es gibt bei uns keine Begrenzungen. Für keines der Alben, die wir bisher umgesetzt haben, hatten wir irgendwelche Orientierungshilfen oder Leitlinien. Ob es den Leuten gefiel oder nicht, wir haben uns selbst nie Grenzen gesetzt. Das bedeutet nicht, dass wir mit Abstand nicht auf die Arbeit zurückblicken und sehen, dass wir zu anderen Zeitpunkten noch ganz andere Persönlichkeiten gewesen sind. Doch wir lieben es, dass wir uns völlig frei entfalten können, was die Sounds anbelangt, die wir erschaffen. Ich würde niemals den künstlerischen Aspekt ersticken oder einschränken, um mich an irgendwelche Genre-Grenzen zu halten“. Belastbarkeit und Aufrichtigkeit schätzt der entfernte Cousin von Vic und Mike Fuentes von Pierce The Veil auch bei anderen: „Ich suche stets nach Ehrlichkeit und etwas, dass eine persönliche Bindung entstehen lässt. Es gibt immer wieder neue Sounds zu entdecken, aber auch bekannte Sachen, die mich ansprechen. Die Kombinationsmöglichkeiten von Musik und Stilen sind schier unendlich. Das macht die Musik so schön und vielfältig. Eine Person kann für sich eine erfolgreiche Formel herausarbeiten. Eine andere Person kann sich die exakt gleiche Formel ausdenken und mit ihr arbeiten. Und doch klingt und fühlt sich das Ergebnis mit großer Sicherheit völlig anders an. Jeder Mensch verarbeitet die Dinge nun einmal anders. Wenn es um Musik geht, ist derjenige, durch den sie gefiltert wird, die Leitung zu einer anderen Welt, die wir als Zuhörer erleben können“.

Der Musiker lässt sich gerne überraschen: „Ich suche nie nach etwas Bestimmtem, auf das ich den Finger legen könnte. Zumeist ist es die Mischung aus Instrumentierung und Gesang, die mich anspricht. Ob es nun die Melodien, Gitarren-Hooks, stellare Drum-Beats, etc. sind, ist nebensächlich. Die letzten Alben von Bring Me The Horizon sind phänomenal, und auch das neue Album von PUP gefällt mir sehr“.

SLEEPING WITH SIRENS haben in der Vergangenheit den Geschmack vieler Hörer auf sich vereinen können und zählen neben Of Mice & Men zu den wenigen Gruppen, die den Sprung aus der Core-Sparte in den Mainstream-Markt geschafft haben: „Am Ende des Tages geht es um gute Songs“, relativiert Nick Martin. „Ein guter Teil davon ist zudem Glück. Dann hängt auch viel am Timing. Es sind die unterschiedlichsten Gründe und eine Million Dinge, die zusammen fallen müssen. Für mich ist es eine erstaunliche Sache, dass unsere Band in der Lage ist, viele Genres zu durchqueren und doch jederzeit nach SLEEPING WITH SIRENS zu klingen. Mein Gefühl sagt mir, dass Kellins Stimme der Klebstoff ist, der die Musik so klingen lässt“. Mit entscheidend dürfte auch die Tatsache sein, dass der Fünfer seine Hörer-Klientel zu bedienen weiß und vor nichts zurück schreckt: „Wir haben schon viele sanfte Pop-Songs geschrieben und schämen uns dafür nicht. Es gibt nichts, was nicht zu unserer Ästhetik passt“. Das neue Album fällt ob der skizzierten Vorgeschichte um Frontmann Kellin Quinn düster und melancholisch gefärbt aus, auch wenn eine melodisch-hymnische Zuspitzung ebenfalls zum Tragen kommt. „How It Feels To Be Lost“ eröffnet SLEEPING WITH SIRENS eine neue Facette und bereichert das Repertoire der Band:

„Da ist eine Schwere und zwar in jedem Sinne des Wortes, sei es in der Instrumentierung oder dem lyrischen Gehalt der Texte“, meint der Gitarrist. „Wir alle erleben Schwere in unseren Leben. Was wir in den letzten Jahren gespürt und erlebt haben, geben wir mit dem Album unverfälscht weiter“. Interessant ist die Aussage des Musikers hinsichtlich dessen, was er selbst aus dem sechsten Longplayer seiner Band zieht: „Ich fühle Hoffnung, Liebe, Motivation und Inspiration“, verrät Nick Martin. „Vor allem aber fühle ich mich demütig gegenüber dem, was ich als Teil von SLEEPING WITH SIRENS erlebe. Unsere Fans nehmen nicht nur in meinem Herzen, sondern auch in meinem Leben einen ganz besonderen Platz ein. Ihre Geschichten, ihre Liebe zu dieser Band – es bleibt nicht unbemerkt. Was kann ich den Menschen und unseren Zuhörern zurückgeben? Allenfalls Dankbarkeit. Ich danke Euch. Unseren früheren Fans, die unser neues Material vielleicht nicht ganz verstehen, möchte ich sagen: „Kommt einfach raus zu den Shows“. Konzerte sind für uns das, was es ausmacht. Wenn du zu einer unserer Shows kommst, garantiere ich, dass du, wenn du uns fünf Jahre lang nicht gesehen hast, heute noch mehr Spaß daran haben wirst, uns zu sehen. Die Live-Shows sind der Ort, an dem alles zusammenkommt – sowohl das neue als auch das alte Material. Und für Leute, die uns nicht kennen: kommt zu unseren Shows, schließt euch der Familie an und seid offen“.

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