Mit ihrem Debüt treffen UNE MISÈRE unvorbereitet, jedoch gewaltig. Der Überraschungseffekt ist der Vorteil von Gruppen, die von jetzt auf gleich auf der Bildfläche erscheinen und denen man als Hörer unvoreingenommen begegnet. Das zwischen Blackened-Hardcore, Mathrock, Noise und Post-(Death-)Metal entwickelte „Sermon“ ist ebenso spannend wie vielfältig.
„Für mich sind wir anders und doch auch wieder nicht“, erwidert Frontmann Jón Már auf die starken Eindrücke beim Erstkontakt mit seiner Band angesprochen. Die volle Wall-of-Sound mit ihren beständigen Verschiebungen und Umdeutungen fordert Konzentration und bedingt eine aufgeschlossene Auseinandersetzung. „Oftmals ist es ziemlich leicht, heraus zu hören, woher wir kommen und was wir hören, finde ich. Doch ich würde gerne daran glauben, dass wir bereits unsere eigene „UNE-Methode“ gefunden haben, was den Klang, die Texte und unser Erscheinungsbild insgesamt anbelangt. Ich gehe keinesfalls so weit, zu behaupten, dass wir etwas gänzlich Neuartiges oder Andersartiges tun. Zumindest benutzen wir unsere Einflüsse aber auf unsere eigene Art und Weise.“ Die sechsköpfige Gruppe aus Reykjavik profitiert davon, dass sie ihre Karriere eigentlich gar nicht geplant hat:
„Die Band ist als Projekt von Freunden mit der Absicht gestartet, Spaß zu haben“, so der Shouter. „Irgendwann wurde uns dann klar, dass wir etwas losgetreten haben, was wir weiter verfolgen müssen. Also taten wir es. Wir haben heute immer noch eine Menge Spaß, aber die Band und ihren Zweck verfolgen wir inzwischen fokussierter und zielstrebiger. Wir wissen, was zu tun ist, und wollen das auch tun.“ Anders formuliert: die Ansprüche der Musiker sind gewachsen. Die Tatsache, dass der Vollzeit-Einstand „Sermon“ bei Nuclear Blast erscheint, spricht für sich und das UNE MISÈRE zugesprochene Potenzial. Die Kooperation mit dem renommierten Metal-Label mit seiner großen Veröffentlichungshistorie dürfte den Musikern schmeicheln: „Ich bin vor etwa zehn bis zwölf Jahren in diese Musik eingestiegen, als Dagur, ein Freund von mir, mich aufgefordert hat, Teil seiner Powerviolence-Band zu werden“, erzählt Jón Már. „Er hat mir einige CDs gegeben und gesagt, ich solle ausgehend davon weiter recherchieren. Bevor ich mich versah, hatte ich einen ganzen Katalog extremer Musik entdeckt, der meinen Geschmack hin zu schweren Gruppen verändert hat. Dabei ist es geblieben, denn in dieser Art von Musik ist etwas, das ernsthaft und nachhaltig mit meinen Gedanken, Emotionen und meiner Erziehung interagiert. Das hat sich im Verlauf der Zeit immer weiter vertieft. Dieser besondere Musik-Stil, den wir spielen, fühlt sich für UNE MISÈRE als richtig an, weil er uns catcht. Was wir investieren, bekommen wir sofort zurück. Die Songs treffen uns einfach und lassen uns uns selbst spüren.“
Das gilt ebenso für die Empfindungen, die die Isländer während und nach ihrer Konzerte verspüren: „Der Begriff Katharsis bedeutet mir sehr viel, weil er wirklich und wahrhaftig ist. Die Eindrücke jeder Show, die wir spielen, sind für uns kathartisch. Wir nehmen unsere Probleme und Sorgen mit auf die Bühne und lassen sie nach der Show dort. Von der Bühne bringen wir nichts anderes als die Liebe, die wir füreinander fühlen, mit zurück. Eine solche Form der Befreiung zu erleben, ist ein Geschenk, für das wir dankbar sind.“
Die zwölf Tracks des Debüts repräsentieren einen ganzheitlichen und vielschichtigen Klangkosmos, der entdeckt und verstanden werden will. Schneller Zugang ist durchaus möglich. Die volle Größe der Musikalität von UNE MISÈRE wird aber nur der Hörer entdecken, der sich intensiv mit „Sermon“ auseinandersetzt: „Im Segment der schweren Musik sind die Leute es gewöhnt, ganze Alben zu hören und sich mit ihnen zu beschäftigen“, zeigt sich Jón Már überzeugt. „Wenn eine Band den Hörern gefällt, unterstützen sie diese auch in der Zukunft und saugen neues Material jeweils begierig auf. Die Rolle des Zuhörers ist in meinen Augen genauso wichtig wie die des Interpreten. Denn wenn der Künstler das von ihm geschaffene Material freigibt, ist es nicht mehr nur seins. Dann übernehmen die Empfänger, die Hörer, und stehen mit ihrer eigenen Interpretation bereit. Das ist das Schöne an der Musik und Kunst im Allgemeinen.“
Die Attitüde des Spiels der Isländer ist aggressiv und roh, der Gesamteindruck ihrer Platte düster. Unter der schroffen Oberfläche steckt aber auch eine Menge Melodie und Verträglichkeit: „Bei uns kommen viele verschiedene Hintergründe zusammen“, verrät der Sänger. „Jeder von uns bringt unterschiedliche Dinge in unsere Musik ein. Für uns gibt es nur eine Regel. Wenn wir denken, dass unsere Einfälle und die daraus resultierende Musik cool sind, setzen wir sie um – unabhängig vom Genre. Ist etwas hingegen nicht cool oder bewegt uns nicht so, wie wir es uns vorstellen, verwerfen wir es. Uns geht es darum, die gesamte Klanglandschaft auszufüllen. Deshalb haben wir das Beste erschaffen, was uns möglich ist. Bands, die wir dabei im Hinterkopf hatten, sind schwer zu benennen, doch die Basis liegt sicherlich bei Gruppen wie Slipknot, Lamb Of God und Hatebreed. Was den lyrischen Gehalt betrifft, schreibe ich über persönliche Erfahrungen und Dinge, die mich bewegen. Zum Beispiel thematisiere ich immer wieder meine Abstinenz, meinen Kampf gegen die Sucht und meine psychische Gesundheit mit all ihren Höhen und Tiefen.“
Die Musiker aus Reykjavik nutzen die kreative Arbeit und ihre Beteiligung an UNE MISÈRE als Therapie: „Wir schreiben über das, was wir kennen und fühlen. Die Umgebung und Stimmung, in der wir aufgewachsen sind, spielt dabei eine große Rolle. Dunkelheit und Isolation sind Themen, die ganz natürlich mit in unsere Musik einfließen, ohne dass wir das beabsichtigen oder erzwingen müssen. Für uns ist es wichtig, ganz in die Musik hinein gezogen zu werden und uns beim Schreiben, Aufnehmen und Live-Spielen völlig von ihr verschlingen zu lassen. Wir wollen uns als eins mit unseren Songs fühlen und sie intensiv leben. Wir sind darauf aus, unsere Emotionen und Botschaften mit unseren Hörern zu teilen. Jeder Hörer entscheidet aber zunächst für sich selbst, ob er das will oder nicht. Tut er das, ist das meiner Meinung nach ein Sieg für uns.“
Auch daneben ziehen die sechs Musiker viel Positives aus ihrer Kunst: „In jeder Band fühlt es sich unglaublich an und ist ein super schönes Gefühl, wenn man Songs fertigstellt“, sagt Jón Már. „So ist es auch bei uns von Anfang an gewesen, doch heute fühle ich mich noch besser, wenn wir neue Stücke beenden. Unser Arbeitsprozess ist effizienter und produktiver als früher. Wir sind auch davon überzeugt, dass wir inzwischen viel bessere Musik schreiben. Das schlägt unweigerlich auf unsere Empfindungen und Eindrücke durch und ist sehr erfüllend.“ Auf ein Wechselbad der Gefühle müssen sich Hörer bei UNE MISÈRE zwingend einstellen: „Es ist nicht ungewöhnlich, sich nicht die ganze Zeit über gut zu fühlen“, erinnert der Shouter. „Was wirklich zählt, ist, das als Tatsache zu akzeptieren und bereit für Veränderungen zu sein. Man muss den Weg zum eigenen Glück suchen, darf dabei niemals aufgeben und schon gar nicht nachgeben. Wenn du dich trotzdem mies und am Boden zerstört fühlst, sprich bitte mit jemandem, der dir nah steht und dem du vertraust. Es gibt in jedem Umfeld jemanden, der bereit ist, dir zuzuhören und dir zu helfen.“
Der Isländer weiß, wovon er spricht und hat mit seiner Aussage Recht. Im kreativen Bereich verhält es sich nicht anders: „Die Erfahrung, auf die wir zurückgreifen können, ist ein klarer Vorteil“, so der Musiker. „Wir alle kommen aus anderen Bands und haben aus unseren Fehlern der Vergangenheit gelernt. Auch deshalb ist der Prozess des Songwritings einfacher als erwartet verlaufen. Die Zeit zum Aufnehmen war hingegen knapp bemessen. Wir hatten nur eine kurze Zeitspanne. Sky Van Hoff und sein Team haben uns zum Glück fokussiert gehalten und tolle Arbeit geleistet. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihnen das gelungen ist.“ In einer sechsköpfigen Gruppe entwickelt sich bisweilen eine eigene Dynamik, die die Dinge verkompliziert: „Mit Zurückhaltung sind wir nicht gut“, äußert Jón Már lachend. „Ich denke nicht, dass wir dieses Problem schon gelöst haben oder in Zukunft lösen werden. Manchmal spüren wir, dass es besser wäre, uns selbst aufzuhalten. Doch andererseits sind wir im Moment mit unseren Schweregraden und unserer Technik sehr zufrieden.“
An eigene und fremde Songs stellt der Frontmann übrigens dieselben Ansprüche: „Ich suche nach Musik, die mich bewegt und die ich nachfühlen kann. Mit einem Song muss ich eine Emotion verbinden. Wenn sich keine Verbindung herausbildet, ist Musik nichts für mich. Whitechapel und Thy Art Is Murder bedeuten mir derzeit sehr viel. Neben diesen heftigen Gruppen kann ich mich aber immer auf Bon Iver und The Tallest Man On Earth verlassen, die mich ebenfalls gut durch den Tag bringen und inspirieren.“