Brutalität und Breakdowns: Die Geschichte des Deathcore

Nach dem Ausklingen der „New Wave Of American Heavy Metal“ (NWOAHM) mit Bands wie SHADOWS FALL, KILLSWITCH ENGAGE, GOD FORBID, LAMB OF GOD, etc. war der Deathcore spätestens ab Mitte der 2000er Jahre das nächste große Ding im Metal-Sektor. Während Deathcore und NWOAHM einige Gemeinsamkeiten wie die Integration von Hardcore-Elementen und die Betonung technischer Präzision teilen, gibt es auch offensichtliche Unterschiede. Musikalisch zeichnet sich der Deathcore durch die Verwendung von Death Metal-Riffs, Blastbeats und MetalCore-Breakdowns aus. Im Genre werden häufig tief gestimmte Gitarren und Tremolo-Picking eingesetzt, wodurch ein schwerer, brutaler Sound entsteht. Im gesanglichen Bereich reicht das Spektrum von tiefen Growls und schrillen Screams bis hin zu den legendären, mitunter belächelten „Pig Squeals“. Auf diese Art und Weise ist ein neuartiger, extremer Sound entstanden, dessen Anfänge sich bis in die späten 1990er und frühen 2000er Jahre zurückverfolgen lassen. Als Keimzelle der Spielart gilt der Südwesten der USA – vor allem Arizona und Kalifornien. Die Schlüssel-Bands, die für den entscheidenden Popularitätsschub des Genre verantwortlich waren und dieses überwiegend noch heute prägen, heißen SUICIDE SILENCE, WHITECHAPEL, CARNIFEX, JOB FOR A COWBOY, ALL SHALL PERISH, THE RED CHORD und DESPISED ICON.

Die frühen Deathcore-Bands traten mit einer klaren Attitüde und Einstellung an, die stark von der DIY (Do It Yourself)-Ethik der Underground-Kultur geprägt war. Die Genre-Katalysatoren waren stark in ihren lokalen Szenen verwurzelt, unterstützten sich gegenseitig, organisierten Shows und halfen sich dabei, eine Szene von Fans und Musikern aufzubauen, die die gleiche Leidenschaft für modern-extreme Musik teilten. Ein weiteres Ziel war es, durch intensive und energiegeladene Live-Auftritte eine starke Verbindung zu ihrem Publikum aufzubauen. Die Konzerte der ersten Jahre waren dem Vernehmen nach oft chaotisch und ungeschliffen, was die emotionale Intensität der Musik unterstrich. Exemplarisch sei Shouter Vincent Bennett von THE ACACIA STRAIN zitiert, der 2010 anlässlich der Veröffentlichung von „Wormwood“ sagte: „Unser Ansatz ist überschaubar und simpel: Wir spielen Songs, mit denen wir harte Emotionen rüberbringen, Leute begeistern und ihnen Spaß bringen wollen.“ Viele Gruppen der ersten Stunde haben ihre Musik in Eigenregie produziert und selbst vertrieben. Nahezu alle legten großen Wert auf kreative Kontrolle und Authentizität, was sich sowohl in der Musik als auch dem Auftreten der Acts widerspiegelte. Die frühen Deathcore-Vertreter nutzten zudem die Chancen aufkommender Social Media-Plattformen wie MySpace, um persönlich mit ihren Fans zu interagieren und sich eine treue Anhängerschaft aufzubauen. Diese neue Form der Interaktivität in Social Media ermöglichte es Fans, neue Musik zu entdecken und Bands direkt zu unterstützen. Dies förderte eine enge Gemeinschaft und half, das Genre weiterzuentwickeln. Die Künstler wiederum stellten ihre Tour-Daten online und verkauften ihr Merchandise selbst. Dieser Fakt ist wichtig, denn das Genre Deathcore ist nicht nur für seine Musik, sondern auch für ikonische Artworks und auffällige Merchandise-Designs bekannt. Diese visuellen Elemente spielten eine wichtige Rolle für die Identität der Szene und den Erfolg vieler Bands. Die Album-Cover und Artworks sind oft genauso plakativ, akribisch ausgearbeitet und anspruchsvoll wie die Musik. Künstler wie Pär Olofsson (SHADOW OF INTENT und THE FACELESS) und Mark Riddick (SUICIDE SILENCE und WHITECHAPEL) haben über das Genre hinaus beachtete Cover geschaffen oder auffällige Logos, T-Shirts, Hoodies, etc. designt, die die rohe und aggressive Ästhetik des Genres adäquat widerspiegeln. Als ikonisch gelten beispielsweise das SUICIDE SILENCE-Design „Bring Back The Headbang“ oder auch viele der provokanten Gestaltungen der Australier THY ART IS MURDER. Die Merchandise-Artikel haben einerseits die Bands unterstützt. Andererseits waren und sind sie auch ein Ausdruck der Zugehörigkeit zur Deathcore-Community und tragen zu deren Identitätsbildung bei.

Der Sound der Genre-Vertreter hat sich seit seinen Anfängen enorm weiterentwickelt. Frühe Deathcore-Bands kombinierten oft einfache, jedoch effektive Riffs mit brutalen Breakdowns. In einem Interview von 2007 hat DESPISED ICON-Frontmann Alex Erian interessanterweise darauf verwiesen, dass nicht allein die Metal-Klientel Berührungsschwierigkeiten hatte: „Als wir auf der Bildfläche erschienen, konnten viele MetalCore-Kids nichts mit uns anfangen, weil unsere Songs Blastbeats und Growls führten. Die jetzt so angesagte Durchmischung technischer Parts mit Breakdowns und Blasts betreiben wir bereits seit fünf Jahren, doch erst heute ist die Szene für uns bereit. Als Band versuchen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten originell und eigenständig zu klingen, doch wir werden wohl niemals so richtungsweisend und bahnbrechend wie die Vorreiter der Genres sein. Nicht grundlos haben MESHUGGAH, SUFFOCATION oder THE DILLINGER ESCAPE PLAN ihre Ausnahmestellung inne. Doch auch in unseren Songs kannst du eine kompromisslose Hingabe an schwere, komplexe Musik hören. Wir arbeiten beständig daran, auftretende Grenzen zu durchbrechen, sowie uns durch schnellere, tightere und komplexere Strukturen immer weiter zu fordern.“ Die Kanadier gelten vielen als die Urväter des Deathcore und genießen längst selbst Kult-Status. Im Laufe der Jahre haben viele Deathcore-Acts ihren Sound verfeinert und technisch anspruchsvollere Metal-Elemente integriert. Die Produktionstechniken haben sich im Zeitverlauf ebenfalls stark verbessert, was bis heute zu einem klareren und kraftvolleren Sound geführt hat. Die Entwicklung des Genres ist insgesamt von einer ständigen Weiterentwicklung und Innovationsstreben begleitet beziehungsweise geprägt. Mit der Zeit führte das zu einer immer breiteren Palette von Stilen innerhalb des Genre – von technisch anspruchsvollen Kompositionen bis hin zu atmosphärischen und melodischen Ansätzen. Um ihre abgefahrenen Ideen umzusetzen, vertrauen WHITECHAPEL bis heute auf ein Sechser-Line-Up:

„Mit drei Gitarren in der Band kann man eine Menge machen, was anderen verwehrt bleibt“, wusste Gitarrist Alex Wade schon 2008 anzuführen. „Die Art und Weise, wie wir unsere Musik arrangieren und wie sie im Ergebnis klingt, separiert uns von anderen Gruppen, die sonst vielleicht vergleichbar angelegt sind. Dank dreier Gitarren sind wir doch ein Stück weit unverkennbar.“ Spätestens ab den 2010er Jahren begannen Deathcore-Bands, immer wagemutiger, mit einer Vielzahl anderer Genres zu experimentieren, was zu einer weiteren Diversifizierung des Sounds führte. „Bands wie BETWEEN THE BURIED AND ME, PSYOPUS, BORN OF OSIRIS, THE FACELESS, etc. haben eine Menge bewegt und viele junge Musiker dazu animiert, sich mit technischen und progressiven Metal-Stilen auseinander zu setzen. Die Genannten haben eine Welle losgetreten, weshalb sich n der Folge viele Bands – auch WHITECHAPEL – in den Kampf gestürzt und die musikalische Herausforderung angenommen haben. Die große Anzahl an Bands wirkt sich Qualität fördernd aus, da man immer besser als die anderen sein will. Die Fans wissen das zu schätzen und man selbst ist gefordert, sich permanent zu verbessern. Dadurch wird es niemals langweilig“, führte Alex Wade einst treffend aus. Etliche Gruppen integrierten seither Elemente des Progressive Metal, Djent und Black Metal in ihre Musik. Deathcore ist lange schon ein internationales Phänomen mit einschlägigen Größen. Australien verfügt über eine lebendige Deathcore-Szene. Eine der bekanntesten Bands von Down Under ist THY ART IS MURDER. Weitere wichtige Vertreter sind AVERSIONS CROWN und MAKE THEM SUFFER. Für Europa haben die Briten von BRING ME THE HORIZON einst wichtige Basisarbeit geleistet. Erst danach änderten sie ihren Stil und fanden noch breitere Anerkennung. Frontmann Oli Sykes gab die Richtung schon zu Zeiten von „Suicide Season“ aus: „Man muss einfach das tun, was man für richtig hält. Wenn man ein großartiges Album mit einem neuen Sound macht und die Leute es hassen, wen kümmert es? Es war zu diesem Zeitpunkt das Richtige für einen selbst und darauf muss man stolz sein. Letztlich geht es bei jeder Platte um die perfekte Balance.“ Aus Deutschland haben insbesondere WAR FROM A HARLOTS MOUTH überregional gehörig für Furore gesorgt und das Gerne hierzulande mit angeschoben. Als aktuell wichtigster Vertreter gelten indes MENTAL CRUELTY.

Trotz der anhaltenden Kritik aus dem traditionellen Metal-Lager wegen der dominanten Verwendung von Breakdowns hat sich der Deathcore bis heute eine starke und engagierte Fangemeinde bewahrt. Die Fähigkeit des Genres, sich weiterzuentwickeln und immer neue Elemente zu integrieren, hat die Extrem-Spielart relevant gehalten, wobei TikTok zuletzt eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung gespielt hat. Wie einst MySpace ermöglicht es die aktuell so angesagte Social Media-Plattform Bands und Künstlern, kurze Clips ihrer Musik global zu teilen und so virale Trends loszutreten oder Challenges zu inspirieren. Das Paradebeispiel diesbezüglich sind LORNA SHORE, deren Song ,To The Hellfire‘ viral ging, zahllose Reaction-Videos und Memes inspirierte sowie viele junge Hörer mit dem Genre in Berührung brachte. Aktuell gibt es etliche relevante Deathcore-Bands, die das Genre sowohl prägen als auch weiterentwickeln. Neben LORNA SHORE, die seit dem Einstieg von Frontmann Will Ramos und mit dem Album „Pain Remains“ enorm an Popularität zugelegt haben, sind all diejenigen anzuführen, die den Deathcore einst etabliert und groß gemacht haben: THY ART IS MURDER, WHITECHAPEL, SUICIDE SILENCE, CHELSEA GRIN und CARNIFEX. All diese Bands zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihr Extrem-Spiel immer wieder neu entdecken und mit jedem neuen Album ein Stück weit anders adressieren. Deshalb repräsentieren die Genannten weiterhin die Vielfalt und Dynamik des Deathcore-Genre. Weibliche Musikerinnen im Genre waren lange Zeit eine Seltenheit. Eine der bekanntesten Fronterinnen ist mit Sicherheit Courtney LaPlante, die einst bei IWRESTLEDABEARONCE mitmischte und aktuell die Frontfrau von SPIRITBOX ist, die man wie auch JINJER durchaus zum Dunstkreis der Spielart zählen kann. Auch nach 20 bis 25 Jahren ist und bleibt der Deathcore ein dynamisches und sich ständig weiterentwickelndes Genre, das weltweit Fans und Musiker inspiriert. Die Mischung aus brutalen Riffs, aggressiven Vocals und intensiven Breakdowns macht diese Extrem-Spielart zu einem festen Bestandteil der modernen Metal-Szene.