Die Band aus Pittsfield hat einen Lauf. Seit dem Erscheinen von „Memory Theater“ im Jahr 2022 sind ESCUELA GRIND so etwas wie die Extrem-Band der Stunde. Das neue Album „Dreams On Algorithms“ wird den Ruhm mehren, repräsentiert das Drittwerk doch furiosen Grindviolence, der catchy Mitnahmeeffekte nicht ausspart, sondern absichtlich ansteuert.
Zuletzt hat es Veränderungen in der Besetzung der Gruppe gegeben. Inzwischen hat sich wieder eine feste Viererkonstellation gefunden, wie Frontfrau Katerina „Kat“ Economou im Gespräch bestätigt: „Wir haben eine Kern-Line-up von drei Leuten, das aus Jesse (Schlagzeug), Krissy (Gitarre) und mir besteht. So läuft die Band seit 2018. Es gab eine Zeit, in der Krissy eine Gitarre mit wenigen Saiten spielte, so dass es aussah, als ob sie eine Bassistin sei, obwohl das nicht stimmte. Inzwischen haben wir einen festen Bassisten. Es ist ein Freund von uns, den man auf unserer aktuellen und den anstehenden Touren live erleben kann. In der Vergangenheit hatten wir wechselnd andere Freunde, die auf Tour Bass gespielt haben. Das ist nun vorbei. Demnächst wird man uns auch in den Musik-Videos zu viert sehen, denn wir wollen das darstellen, was die Leute auch live sehen.“ Auf das Songwriting schlagen personelle Wechsel dabei nicht durch:
„Je mehr Personen du hinzufügst, desto komplexer wird der Arbeitsprozess“, weiß Kat. „Hat man die richtigen Leute in seiner Gruppe, ist es dennoch eine gute Sache. Wir vier sind gute Freunde und kennen uns schon lange. Wir schauen YouTube-Videos zusammen, mögen dieselben Musik-Stile und sind alle sehr aufgeschlossen, wenn es um unsere Band geht. Es ist aber ohnehin ein offenes Geheimnis, dass Jesse die meisten unserer Stücke schreibt. Krissy setzt auf seinen Ideen mit der Gitarre auf. Und dann komme ich irgendwann dazu und steuere meine Vocals bei. In jedem Fall arbeiten wir ab irgendeinem Punkt zusammen – auch bei den Texten. Oft sind es nicht nur meine Lieder, weil wir sie gemeinsam geschrieben haben. Hier kommt uns zugute, dass wir alle aus einem ähnlichen Erfahrungsraum stammen und ein sehr ähnliches Mindset an den Tag legen. Das macht vieles einfacher.“
Die Experimentierfreude wird ebenfalls geteilt. Mit ,Turbulence‘ findet sich auf dem neuen Album ein erster Track mit Clean-Vocals, aber warum erst jetzt? „Das war bislang eine Frage des Selbstbewusstseins“, erklärt die Sängerin. „Ich habe mich schon längere Zeit gefragt, ob es zu uns passt oder nicht. Bis vor kurzem hatten wir noch nicht die richtige Antwort auf diese Frage gefunden und uns deshalb nicht getraut, Clean-Gesang zu integrieren. Auf Tour haben wir in der letzten Zeit viel Zuspruch von anderen Bands erhalten, die mich gehört haben. Abends singen wir nach den Shows oft zusammen im Tour-Bus. Irgendwann haben wir der Meinung der anderen vertraut, zumal auch Kurt Ballou von Converge, bei dem wir auch „Dreams On Algorithms“ wieder aufgenommen haben, uns zu diesem Experiment geraten und uns angespornt hat. Er hat schon so viele Bands gesehen. Man muss einfach auf ihn hören. Dennoch haben wir es auf unsere Art und Weise umgesetzt. Inzwischen sehen wir, dass das, was wir gehört haben, wahr ist. Deshalb haben wir uns gleich auch getraut, gewisse Grunge-Einfüsse zuzulassen. Wir alle schätzen Alice In Chains, Nirvana und Soundgarden sehr und hören sie seit vielen Jahren. Am Ende fühlte es sich sehr natürlich an, all das zu integrieren. Was den Clean-Gesang anbelangt, wird hoffentlich niemand enttäuscht sein, dass es nur ein Stück auf der Platte gibt, in dem ich singe. Doch wir haben schon mitbekommen, dass es bei den Leuten gut ankommt und sie jetzt mehr wollen. Da müssen sie sich allerdings bis zur nächsten Platte gedulden.“
Eine andere Möglichkeit wäre es, sich nach den Shows neben den Tour-Bus zu stellen. Chancen gäbe es viele, denn ESCUELA GRIND sind verdammt rege und das sowohl in ihrer Heimat USA als auch in Europa: „Europa ist uns sehr wichtig“, äußert Kat. „In den USA haben wir in den letzten Jahren sehr hart gearbeitet und ein intensives DIY-Tour-Programm durchgezogen. Wir waren permanent auf der Straße und sind im Van über Monate jeden Tag von einer Show zur nächsten gefahren. Letztes Jahr haben wir mehr als 250 Shows gespielt, davon etliche in Europa, aber noch mehr Zuhause in den USA. Es hat seine Zeit gebraucht, unseren Namen bekannt zu machen, doch das ist uns gelungen. Nun liegt unser Fokus auf Europa. Wir so glücklich und dankbar dafür, dass es diese tolle Infrastruktur sowie die vielen Festivals und Clubs gibt, die gut zu uns sind und in denen wir spielen können. Deshalb haben wir uns auch hier so schnell etablieren können.“ Die aktuelle Tour der Extrem-Kombo läuft stolze zwei Monate, doch die Gruppe aus Pittsfield weiß, wofür sie die Strapazen auf sich nimmt:
„Es ist toll, in Deutschland und den übrigen Ländern so viele bekannte Gesichter von den früheren Touren wieder zu sehen“, freut sich die Frontfrau. „Deshalb mögen wir die Club-Shows noch mehr als die Festivals. Doch auch dort entdecken wir im Publikum regelmäßig Bekannte und können uns noch dazu vielen Leuten vorstellen, die uns zuvor noch nicht kannten. Sobald die Leute mit uns sind und abgehen, gibt es nichts Größeres. Bei den Club-Shows ist es oftmals so, als würden wir mit unseren engsten Freunden feiern. Das macht es für uns so besonders, denn dann fühlt es sich so an, als wären wir zu Hause. Es ist auch deshalb wichtig, weil wir wollen, dass sich alle Leute auf unseren Shows wirklich willkommen und wohl fühlen.“ Das Tour-Programm von ESCUELA GRIND grenzt an Selbstausbeutung, doch der Zweck heiligt die Mittel: „Als Bandmates nehmen wir nichts als gegeben“, stellt Kat klar. „Viele Leute denken, dass sie nur wegen ihrer Musik oder ihres Auftretens von anderen akzeptiert werden, aber das ist nicht unsere Realität. Wir waren schon immer die Außenseiter in unserer Szene, seit ich sie für mich entdeckt habe. Auch wenn heute vieles besser ist, ist es längst noch nicht normal, Frauen und queere oder transgender Menschen auf der Bühne zu sehen. Deshalb ist es für uns sowohl unser Recht als auch unser Privileg, das hier zu tun. Es ist fast so, als wären wir gezwungen, diese Dinge zu machen und so viel wie möglich zu touren. Aufgrund dieser Ausgangslage ertragen wir vielleicht mehr als andere Gruppen und machen einfach weiter. Indem wir so viele Shows spielen, riskieren wir ganz klar unsere Gesundheit. Und damit meine ich nicht die Verletzungen, die man sich auf Shows zuziehen kann. Doch egal, was kommt, wir ziehen durch. Bisher haben wir keinen einzigen Auftritt aufgrund von Krankheit, Verletzung, Ermüdung oder aus anderen Gründen abgesagt. Für das, was wir tun können, sind wir sehr dankbar. Denn es kann jederzeit vorbei sein. Das haben wir alle mit der Pandemie erlebt.“
Das trifft zu, wobei ESCUELA GRIND dank der ungewollten Auszeit ihren Siegeszug vorbereiten konnten: „Während der Pandemie waren wir eng beieinander, denn wir haben zusammen in demselben Haus gewohnt“, erzählt die Sängerin. „Wir sind jeden Tag aufgestanden und haben gearbeitet – nicht ausschließlich nur an der Musik und unserer Band, aber hauptsächlich. So ist „Memory Theater“ entstanden, unsere Pandemie-Platte. In dieser Phase haben wir viel Online-Content veröffentlicht, denn das war der einfachste Weg, um Leute zu erreichen, und ging schnell. Wer uns unterstützen wollte, konnte dies tun. Mit den Einnahmen haben wir nicht nur die Band am Leben gehalten, sondern auch unser Umfeld unterstützt. Das tun wir bis heute und arbeiten nach wie vor mit verschiedenen Organisationen und Gruppen zusammen, die sich für die Rechte von Homosexuellen und Trans-Menschen einsetzen. Als die Pandemie vorüber war, sind wir direkt auf die Straße und haben überall dort Konzerte gespielt, wo es möglich war. COVID-19 war noch real, weshalb wir nie im Voraus wussten, ob die Shows stattfinden oder abgesagt würden. Doch wir sind rausgegangen und haben das Risiko in Kauf genommen. Seither sind wir fast unentwegt getourt. Irgendwann hat dann ein Schneeballeffekt eingesetzt und die Dinge haben sich verselbstständigt.“
Damit meint Kat, dass „Memory Theater“ weltweit durch die Decke ging: „Um ehrlich zu sein, haben wir bis heute noch nicht vollends verstanden, was dieses Album ausgelöst hat. Online habe ich Kontakt zu Leuten an Orten, die wir noch nie gesehen haben – wie Indonesien, Japan, Südamerika, Brasilien oder Chile. Das ist verrückt. Dabei ist schon bei den Aufnahmen einer unserer größten Träume in Erfüllung gegangen, denn wir haben mit Kurt Ballou aufgenommen, unserem Idol. Das an sich war schon surreal, auch wenn der Druck gewaltig war. Wir haben alles in drei Tagen eingespielt. Es lief schnell und war verrückt. Was ich oft höre, ist, dass „Memory Theater“ für die Leute eine andere Art extremer Musik darstellt. Es ist toll, dass wir diesen Eindruck erwecken konnten, denn so etwas kann man nicht planen.“ Das exzellente Songwriting von ESCUELA GRIND, das nicht verschwiegen werden darf, erfährt auf „Dreams On Algorithms“ seine Fortsetzung: „Wir konzentrieren uns intensiv auf die Spannungsbögen“, bestätigt die Frontfrau. „Zusätzlich haben wir kriminell gute Refrains gesetzt. Natürlich kann man in unserem Genre immer darauf abstellen, nachzuweisen, wie schnell und extrem man spielen kann. Doch wir haben verstanden, dass da mehr sein muss. Es greift zu weit, von einer Pop-Sensibilität zu sprechen, aber in diese Richtung geht es. Erst baust du die Spannung auf. Dann explodierst du und am Ende steht der Gewinn. Das ist unser Tanz – ein harter Tanz.“
Den Ausgangspunkt für die musikalische Ausgestaltung des Drittwerks bildet der Vorgänger. Für die Texte hat Kat ein brandaktuelles Thema gewählt: „Wir sprechen heutzutage viel über Algorithmen, haben aber noch nicht ansatzweise erfasst, was sie auslösen können und ihre Konsequenzen sind. Das wirkt sich bis auf die Welt der Träume aus. Ich gehe mit meinem Handy zu Bett und bin damit aktiv, bis ich einschlafe. Social Media weiß, wie man mich nervös und neugierig machen kann. Will ich all diese Scheiße aber wirklich in meinen Kopf stecken, bevor ich einschlafe? „Dreams On Algorithms“ ist ein Album über eine dunkle Seite der modernen Zivilisation. Soziale Angststörungen sind nicht weit entfernt. Wir alle haben sie und erleben sie jetzt sogar live. Meine Eltern haben bis vor kurzem kein Social Media genutzt. Nun sehe ich an ihrem Beispiel, wie sie mental beeinflusst werden, welche Verzweiflung sich bei ihnen einstellt und dass sie das sich schlecht fühlen lässt. Sie hatten zuvor überhaupt keine Erfahrung mit Social Media. Alles ist neu für sie und schnell zu einer emotional traumatisierenden Sache geworden. Es ist kein Thema, das nur junge Menschen umtreibt. Es beeinflusst uns alle. Das ist wirklich beängstigend.“
Picture credit: Dante Torrieri