JINJER

„Duél“ klingt mutig, risikofreudig und kompromisslos. JINJER entwickeln ihren Trademark-Sound auf ihrem fünften Album schlüssig fort. Der Dualismus aus Härte und Zugänglichkeit ist eines der vertonten Duelle, die stilistische Ausgestaltung zwischen Groove-Metal, Djent, Metalcore und Post-Metal ein weiteres.

„Das ist nichts, worauf wir es absichtlich anlegen“, entgegnet Bassist Eugene auf den vielschichtigen Crossover-Sound angesprochen. „Es kommt einfach aus uns heraus. Wir haben uns niemals hingesetzt und beschlossen, dass wir kompositorisch und technisch abgefahren sein wollen. So funktioniert das schlicht nicht. Wie wir heute klingen, ist das Ergebnis einer langen Entwicklung, die sich über viele Jahre erstreckt. Darin drückt sich unser Streben danach aus, auf jedem neuen Album etwas anderes zu tun und mit unserem Sound weiter zu wachsen. Mit dem, was wir bereits gespielt haben, sind wir vertraut und kennen uns damit aus. Doch wir wollen nicht auf der Stelle treten und uns schon gar nicht wiederholen, denn wir wissen, dass noch viel mehr in uns steckt, das wir anzapfen wollen.“ Eine direkte Folge dieses Vorgehens ist es, dass der aus der Ukraine stammende Vierer einerseits als innovativ angesehen wird und inzwischen andererseits die Funktion einer Gateway-Band erfüllt:

„Innovativ ist ein Attribut, das ich gerne annehme und hoffe, dass wir dem gerecht werden“, nimmt Eugene das Kompliment an. „Und weil ich Aussagen wie diese inzwischen schon einige Male gehört habe, scheint darin ein wahrer Kern zu stecken. So ganz habe ich das aber noch nicht verinnerlicht, auch wenn ich es wohl oder übel akzeptieren muss. Das ist eine große Ehre. Der Schlüssel dazu, eine Gateway-Band zu sein, liegt für mich darin, dass wir verschiedene Stile miteinander kombinieren und es aufgrund dieses Genre-Mixes vielen Hörern leichter fällt, unsere Songs zu verstehen, auch wenn sie mit Metal sonst nichts anfangen können. Bei uns findet man ja auch balladeske und schöne Momente ganz ohne Härte. Wenn dann ein Blastbeat erklingt, schockiert sie das wahrscheinlich immer noch, aber vielleicht haben sie sich schon davor entschieden, den Song zu mögen und hören ihn deshalb bis zum Ende. Einige Leute haben mir erzählt, dass es in ihrem Fall genau so abgelaufen ist. Ich finde es toll, wenn es so funktioniert, aber geplant oder unsere Strategie ist das natürlich nicht. Es liegt in der Natur unserer Band, dass wir in unseren Songs barsche und zugängliche Elemente miteinander kombinieren, denn so fühlt es sich für uns richtig an. Unsere Band profitiert davon, dass es den Leuten dabei hilft, sich mit harter Musik anzufreunden.“ JINJER spielen auf „Duél“ weiterhin ruppig und komplex auf, haben das zugängliche Moment verglichen mit dem letzten Album „Wallflowers“ aus 2021 vielleicht sogar wieder etwas zurückgefahren:

„Ein allgemeingültiges Erfolgsrezept existiert für uns nicht“, führt Frontfrau Tatiana an. „Jedenfalls haben wir es noch nicht gefunden. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich schon gehört habe, dass die Leute Songs fordern, in denen ich ausschließlich singe. Dem gegenüber stehen die Stimmen, die wollen, dass ich nur growle und auf Klargesang komplett verzichte. In diesen beiden Positionen zeigt sich, dass man es nie allen Recht machen kann und dass es so wichtig ist, dass wir das tun, was wir wollen und was uns begeistert. Ich liebe sowohl das Singen als auch das Growlen. Deshalb tue ich beides. Wie es beim Publikum ankommt, lässt sich vorab nicht abschätzen.“ Deshalb ist es nur konsequent, dass die Ukrainer externe Erwartungen im kreativen Arbeitsprozess ausblenden und sich allein nach ihren Vorlieben richten: „Unbedingt, denn authentisch und man selbst zu sein, ist die Aufgabe jedes Künstlers“, bestätigt Tatiana. „Nur, wer mit sich im Reinen ist und sich in seiner Kunst voll und ganz auslebt, hat überhaupt die Chance, bei anderen Anklang zu finden. Davon bin ich überzeugt. Mit unserer Musik zielen wir ohnehin nicht auf die breite Masse ab, sondern wollen die Hörer finden, die unsere Songs verstehen. Das sind Leute, die von uns nicht bestimmte Dinge fordern oder erwarten, sondern sich bereitwillig mit dem beschäftigen, was wir aus uns heraus tun. Wirkliche Kunst entsteht dann, wenn man alles aus sich herauslässt und nicht auf andere hört. Geld zu verdienen, darf kein Ziel sein, das man anstrebt. Das liefe wirklicher Kreativität zuwider. Auf Tour erleben wir immer wieder, was es mit Bands macht, die Kompromisse eingehen und dann sprichwörtlich darin gefangen sind. Natürlich wollen wir auch JINJER so weit bringen, wie es uns möglich ist, aber auf unsere Art und Weise. Wir wissen, dass diese Gruppe niemals die größte der Welt sein wird. Damit sind wir okay, was viel Druck von uns nimmt. Gemessen an unseren Ansprüchen sind wir sehr erfolgreich. Unserer komfortablen Situation sind wir uns bewusst und dafür sehr dankbar. Es könnte deutlich schlechter für uns laufen. Wir haben keinen Grund, uns zu beschweren.“

Bassist Eugene ergänzt lachend: „Es war nie unser Ziel, die nächsten BEATLES zu werden. Das wäre ohnehin unrealistisch, doch für JINJER nehme ich es in Anspruch, eine Band zu sein, die alle Regeln des Metal-Textbuches bricht. Obwohl ich anmerken muss, dass es für mich überhaupt kein Metal-Textbuch gibt. Im Metal ist schon immer alles erlaubt gewesen.“ Sängerin Tatiana springt ihrem Bandkollegen bei: „Exakt das ist unsere Version von Metal, wobei man es nicht einmal Metal nennen muss. Es ist ein großer Salat mit vielen verschiedenen Zutaten. Oder man könnte es auch als riesiges Universum mit hellen Sternen und tiefen dunklen Schwarzen Löchern beschreiben.“ Was das für das Songwriting der Ukrainer bedeutet, erklärt Eugene: „Im kreativen Bereich gibt es für mich keinen vorgezeichneten oder festgelegten Weg“, so der Bassist. „Wir schreiben unsere Songs nach Gefühl und so, wie sie sich natürlich entwickeln. Das ist auch der Grund dafür, weshalb wir nie auf alten Ideen aufsetzen, sondern stets neue entwickeln. Das Tolle an dieser Arbeitsweise ist es, dass selbst wir vorab nicht wissen, was passieren wird. Das hält die Dinge frisch und aufregend, auch wenn es dadurch manchmal etwas länger dauert. Es widerspricht dem Wesen dieser Band, entlang von Plänen zu arbeiten. Natürlich wäre es uns ein Leichtes, Songs zu schreiben, in denen Tatiana überwiegend oder vollständig singt. Doch das wollen wir nicht. Wir sind keine Pop-Band und wollen diese Richtung nicht betonen.“

Das sind bloß Worte. Die Tracks von „Duél“ fallen härter und ruppiger aus, als von vielen Fans vielleicht erhofft. JINJER sind in jeder Hinsicht konsequent und selbstbestimmt unterwegs: „Restriktionen sehe ich allein in Bezug auf die Zeit und die Anzahl an Songs, die wir in dieser schreiben können – und sicherlich auch mit Blick auf die Spielzeit unserer Stücke“, überlegt Eugene. „Unser längstes Stück ist 6:55 Minuten lang, also sollten wir die Grenze von sieben Minuten und zwölf Noten setzen. Ich kann mich aber nicht erinnern, wann wir zuletzt nicht in der Lage waren, unsere Einfälle in die Realität zu überführen. Wir wissen, was wir können und kitzeln jedes Mal noch ein wenig mehr aus uns heraus.“ Die Formkurve der vierköpfigen Gruppe zeigt weiterhin nach oben. Das fünfte Album ist für intensive Eindrücke und so manche Überraschung gut. Auch deshalb fallen JINJER auf: „Weder sehe ich mich in einer Vorbildrolle noch würde ich eine solche annehmen“, antwortet Tatiana darauf angesprochen, dass sie inzwischen zu einer Art Szene-Ikone avanciert ist. „Natürlich gibt man als Künstler eine Richtung vor und findet anschließend heraus, ob einem die Leute folgen oder nicht. Abgesehen davon, sehe ich bei mir jedoch keine übergeordnete Verantwortung. Als Menschen und Band werden wir uns nicht in den Erwartungsrahmen anderer einfügen und auch nicht die Welt retten. Das ist nichts, was wir als Band oder ich als Frontfrau leisten können. Mitunter verfluche ich das, was in meine Person alles hinein projiziert wird, aber zumeist belastet mich das nicht. Es verhält sich wie mit unserer Musik: Wir müssen uns für nichts schämen und verbreiten keine geheime Lehre oder krude Verschwörungstheorie. Ich singe über alltägliche weltliche Dinge und versuche, ihnen einen positiven Twist mitzugeben, damit es den Leuten nach dem Hören unserer Songs besser geht.“

Für Bassist Eugene ist das ein wichtiger Punkt, der nur selten Beachtung findet: „Auf unseren letzten Alben gibt es keinen einzigen Song, der textlich negativ aufgeladen ist oder Leute motivieren könnte, böse oder schlimme Dinge zu tun. Wie verurteilen Aggression und Gewalt und rufen dazu auch nicht auf. Das passt einfach nicht zu uns und unserer Botschaft.“ Was diese ausmacht, beschreibt Sängerin Tatiana wie folgt: „Wir stehen für eine bessere Welt ein. Meine Texte sollen wie der Besuch eines guten Restaurants sein, bei dem der Koch ein fantastisches Menü zubereitet – im Unterschied zu blassem Fastfood. JINJER ist keine Band, deren Musik und Texte man schnell und gedankenlos konsumieren kann. Wer keine Zeit für uns hat, braucht erst gar nicht anzuhalten. Ich freue mich sehr darüber, dass es viele Leute gibt, die sich mit meinen Texten beschäftigen und sich in ihnen wiederfinden. Auch deshalb gibt es keine versteckten Bedeutungsebenen oder Texte, die man groß interpretieren muss. Ich nenne die Dinge beim Namen, eben weil sie aus meinem Alltag stammen. Alles liegt auf der Hand, sieht man von den Metaphern ab, deren Bedeutungen aber auch problemlos zu verstehen sind. Metaphern sind kleine Rätsel, jedoch keine, die unlösbare Herausforderungen darstellen. Sie helfen schlicht dabei, einfache Begebenheiten mit etwas mehr Bedeutung aufzuladen.“

Das Interview mit Tatiana und Eugene fand via Zoom aus dem Backstage-Raum eines Clubs statt. Die Frontfrau war hörbar angeschlagen, weshalb die letzte Frage ihrer Gesundheit galt: „Meine Stimme ist das, worauf ich aufpassen muss, weil ich sie jeden Abend auf der Bühne brauche“, erzählt die Sängerin. „Es gibt aber kein Rezept, um sie vor zwei aufeinanderfolgenden Touren am Stück zu schützen. Und die dritte Tour mit HEAVEN SHALL BURN in Lateinamerika startet bereits in wenigen Tagen. Ich habe für mich festgestellt, dass Aufwärmen meine Stimme noch mehr erschöpft und verzichte deshalb inzwischen darauf. In der Vergangenheit hat mir das Trinken geholfen, doch seit einiger Zeit verzichte ich auf Alkohol. Derzeit recherchiere ich, wie ich meine Stimme durch Übungen unterstützen und was ich gegebenenfalls noch tun kann. Momentan teste ich verschiedene Hausmittel wie Tee mit Honig. Nicht zu sprechen, ist sinnvoll, um mich zu schonen, aber das geht nicht immer.“

JINJER – Official Website

Photo credit: Lina Glasir