Es beginnt bereits beim Namen: Man muss genau hinschauen. Übertragen auf die Musik von THE CALLOUS DAOBOYS gilt es, genau hinzuhören. Es gibt viel zu verdauen und zu entdecken. Widersprüchliche Eindrücke, überbordende Experimentierfreude und beständige Stilbrüche sind hier an der Tagesordnung. Konventionen werden auf „I Don’t Want To See You In Heaven“ entweder ignoriert oder ad absurdum geführt.
Die sechsköpfige Gruppe aus Atlanta, Georgia ist kürzlich durch Europa getourt, nur um – zurück in den USA – direkt wieder in den Bus zu steigen. Das Gespräch mit Carson Pace fand während einer Fahrt statt, bei der der Frontmann mehrfach über schlechte Straßen und tiefe Schlaglöcher klagte. Marode Straßen gibt es also auf beiden Seiten des Atlantiks: „Die letzte Tour in Europa und die, auf der wir gerade in den USA sind – das ist für mich der perfekte Sturm. Silverstein, Thursday, wir und Bloom waren vier sehr unterschiedliche Bands, doch wir alle haben auf verschiedene Weise die Fangemeinden der jeweils anderen angesprochen. Bei der gerade laufenden Tour mit Chiodos, Hawthorne Heights und Emmure sind wir wieder vier extrem unterschiedliche Bands, doch es passt hervorragend. Manchmal klingt unsere Band wie Emmure, manchmal wie Fall Out Boy oder Gojira und manchmal wie die verdammte Carly Rae Jepsen. Man weiß nie wirklich, was man bei uns bekommt. Von jeder Band, mit der wir touren, gibt es immer etwa zehn Prozent der Fanbasis, die sich für das interessieren, was wir tun. Mit der Zeit kommt da einiges zusammen. Wenn man all diese Leute in einem Raum versammeln und zusammenzählen würde, hätte man eine wirklich vielfältige Fangemeinde, die uns spannend findet. Darauf vertrauen wir, und deshalb bin ich sehr dankbar, dass wir mit so vielen unterschiedlichen Bands auf Tour gehen dürfen und in so viele verschiedene Pakete passen.“
Während THE CALLOUS DAOBOYS in Europa noch Aufbauarbeit leisten, dürfen sie in den USA bereits als etablierter Act gelten. „Da lässt sich nicht viel drum herumreden, aber für uns ist es wichtig, durch Europa zu touren“, bestätigt Carson. „Es dauert einfach seine Zeit, bis sich amerikanische Bands dort durchsetzen, aber wir haben bisher immer eine gute Zeit gehabt und finden, dass es sich lohnt. Unsere bisher größte Show war vor etwa 4.000 Leuten. Jede Tour hilft uns, bekannter zu werden. Natürlich ist das Tour-Geschäft schwierig, aber ich werde mich nicht beschweren. Die zusätzlichen Lebenserfahrungen, die ich durch das Touren in Europa gesammelt habe, nehme ich auch mit. Ich bin sehr dankbar, dass unsere Band so weit gekommen ist und dass das überhaupt möglich ist. Und wir haben es jetzt schon vier Mal geschafft, in Europa zu touren.“ …nicht zu vergessen die Sommer-Saison: „Auch dank der Festivals konnten wir definitiv bereits eine eigene Fangemeinde aufbauen“, nickt der Frontmann. „Ich habe das Gefühl, dass unsere europäischen Fans etwas schüchtern sind, wenn es ums Mitsingen geht, besonders wenn wir für andere Bands eröffnen. So habe ich die Europäer kennengelernt: Sie wollen sicherstellen, dass alle eine gute Zeit haben und nicht nur sie selbst. Es ist mir schon mehrmals passiert, dass jemand, der während der Show die ganze Zeit nur dagestanden hat, später zu mir kam und sagte, wir seien seine Lieblingsband. Von der Bühne aus hätte ich das nie erwartet. Deshalb denke ich, dass viele ein bisschen schüchtern sind, aber wir haben uns definitiv unsere eigene Fangemeinde aufgebaut.“
In den USA ist es laut Carson ganz anders: „Bei unseren Shows dort gibt es viel Rowdytum und Gewalt. Als Land und Gesellschaft machen wir politisch und wirtschaftlich gerade einiges durch. Deshalb wollen sich die Leute austoben und suchen ein Ventil. Vielleicht sind wir auch ein bisschen unvernünftiger und drehen deshalb mehr frei, ohne an die Konsequenzen zu denken. Als Amerikaner mögen wir es, die Fäuste zu schwingen und ignorant zu sein. Nicht negativ gemeint, denn ich liebe das selbst auch und mache nichts anderes, wenn ich Shows meiner Lieblingsbands besuche. Die Shows sind sehr unterschiedlich, aber wir hatten auch schon wirklich laute und gute Gigs in Großbritannien, die uns an zu Hause erinnert haben. Jedes Mal, wenn wir in den Niederlanden spielen, ist es ebenfalls ziemlich gut. In Deutschland hatten wir allerdings noch keine Show, bei der ich dachte: ‚Wow, das war krass.‘ Natürlich hängt es immer davon ab, in welcher Stadt man spielt und wie viele Zuschauer kommen.“
Demut und Aha-Erlebnisse
Nach Abschluss der Findungsphase in den ersten vier Jahren nach der Band-Gründung 2016 geht es für THE CALLOUS DAOBOYS stetig bergauf: „Zunächst haben wir allein DIY-Shows gespielt und nur Underground-Sachen gemacht“, erinnert sich Carson an den Start. „Unser erster wichtiger Meilenstein war 2017, als wir eine EP-Veröffentlichungs-Show gespielt haben, die in einem kleineren Veranstaltungsort in Atlanta ausverkauft war. Es waren um die 150–200 Leute dort. Darauf waren wir wirklich sehr stolz. Interessanterweise war es ein ganz anderes Publikum, als wir es heute haben. Damals haben wir die Band noch eher als Witz betrachtet und auf der Bühne viele Dinge getan, die absichtlich ulkig oder abschreckend sein sollten – wie zum Beispiel einen Breakdown auf sieben Minuten zu verlängern und so einen Kram. Aus heutiger Sicht war das total bescheuert, aber dennoch ein wichtiger Meilenstein. Der nächste Schritt folgte bald darauf: „Wow, wir haben 1.000 monatliche Hörer auf Spotify.“ Ein echtes Aha-Erlebnis, ob man es mag oder nicht. Dann hörten uns 100.000 Menschen zu – so viele passen nicht einmal in einen Raum“. Carson erinnert sich zudem gerne an ein besonderes Highlight: „Irgendwann hatten wir die erste Single von unserem Debüt veröffentlicht, und die hatte einen Mix, der uns wirklich, wirklich gut gefiel. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass unser Songwriting wirklich gut ist. Und es lief für die Band inzwischen so gut, dass wir weitermachen konnten. Für Anfang 2020 wurde unserer Band angeboten, bei einem ersten größeren Tourpaket mitzumachen. Hätten wir dieses Angebot gerne angenommen? Natürlich, aber das sollte nicht sein. Also haben wir das gemacht, was wir am besten können: Während des Lockdowns ein Album geschrieben und aufgenommen. Als sich dann alles wieder öffnete, waren wir bereit, so richtig loszulegen. Für uns war es gut, dass wir unseren Lebensunterhalt noch nicht aus Tourneen bestreiten mussten und unsere Jobs nicht gekündigt hatten. Es war also eine bequeme Position. Wir hatten das Timing richtig erwischt und das Glück auf unserer Seite. Eins kam zum anderen. Wenn man nun darauf zurückblickt, denke ich nur, wie naiv wir anfangs gewesen sind. Aber es ist gut, sich daran zu erinnern, dass es wichtig ist, dankbar dafür zu sein, wo wir jetzt stehen.“
Nur kein Ärger
THE CALLOUS DAOBOYS haben inzwischen viele Fans auf der ganzen Welt, die sich intensiv mit ihrer Musik beschäftigen. Carson berichtet: „Gestern hat mir ein Fan auf Instagram eine Direktnachricht geschickt, nach der Bedeutung unserer neuesten Single ‚Lemon‘ gefragt und mir direkt seine eigene Interpretation mitgeliefert. Da wurde mir wieder einmal bewusst, dass es seine Interpretation ist und das Lied nicht mehr mir gehört. Denn das ist es, was es ihm bedeutet. Ärgerlich finde ich es nur, wenn Leute sagen, meine Texte seien Unsinn. Das verletzt mich, weil sie es nicht sind. Ich denke intensiv über sie nach und arbeite unermüdlich an ihnen. Doch manche Leute verstehen sie einfach nicht.“ Auch die Auseinandersetzung mit „I Don’t Want To See You In Heaven“ ist nicht immer einfach und erfordert Geduld sowie Offenheit – andere mögen von starken Nerven und eine gewissen Ausdauer sprechen: „Hoffentlich führt die Tatsache, dass die Leute Schwierigkeiten haben, unsere Stücke nachzuvollziehen, dazu, dass sie sich die Songs öfter anhören“, äußert Carson. „Es reicht ja schon, wenn jemand denkt: ‚Ich verstehe dieses Lied nicht ganz, aber ich mag es.‘ Verstehst du, was ich meine? Da wir im Spotify-Zeitalter leben, werden leider nur wenige Leute das gesamte Album mit allen Songs hören.“
Dabei hat das Sextett aus Atlanta längst gute Erfahrungen und respektable Streaming-Zahlen gesammelt. „Das mit den Singles funktioniert für einige Bands richtig gut“, stimmt Carson zu. „Doch ich mag Alben, die vollständige und prägnante Werke sind, die zusammenfließen und zusammenpassen. Das Single-Format ist etwas, mit dem wir ein wenig experimentiert haben und das wir weiterhin ausprobieren werden. Es ist jedoch interessant zu beobachten, wie sich die Singles im Zusammenhang mit der neuen Album-Veröffentlichung schlagen. Inzwischen frage ich mich manchmal tatsächlich, ob wir eher Single-Fans sein sollten, weil sie so gut ankommen. An sich mag ich Alben und werde mich immer mehr dafür einsetzen, ganze Werke zu schaffen, anstatt den Leuten nur kleine Ausschnitte zu geben. Doch schon vor zwei Jahren haben wir mit „God Smiles Upon The Callous Daoboys“ eine EP mit drei Songs gemacht, die sich wie ihre eigenen Singles anfühlten und es verdient hatten, auf diese Weise veröffentlicht zu werden.“ Sein Songwriting sieht Carson Pace dadurch nicht verändert: „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich beim Schreiben nicht an die Zuhörer denke. Doch das muss nichts Schlechtes sein, zumal ich noch nie etwas nur deshalb geschrieben habe, weil ich dachte, es würde anderen gefallen. Ich mache immer das, was ich interessant finde und wovon ich beeinflusst bin, und versuche bei allem so viel wie möglich nachzudenken.“ Dazu gehört auch, offen für Neues zu bleiben:
„Ich versuche, so viel neue Musik wie möglich zu hören“, gibt Carson zu. „Wenn mir jemand etwas empfiehlt, fühle ich mich normalerweise sehr geehrt und höre es mir an, ohne mich übermäßig beeinflussen zu lassen. Wenn ich dann in einem kreativen Modus bin, frage ich mich: „Okay, wenn wir das so machen oder die Songs auf eine bestimmte Weise arrangieren, wie wird sich der Zuhörer dabei fühlen?“ Meine Rolle als Künstler und Zuhörer besteht darin, sicherzustellen, dass ich nichts tue, was mich selbst verärgert.“
Pictures: Nick Karp