VØVK

Das Album „Litera“ des Kiewer Trios VØVK entfaltet sich zunächst klanglich leichtfüßig und beinahe sorglos – doch dieser Eindruck täuscht. Hinter der scheinbaren Leichtigkeit verbirgt sich ein tiefgründiges, emotional aufgeladenes Werk. Es reflektiert die kriegsgeprägte Realität der Ukraine nicht durch direkte Darstellung, sondern durch künstlerische Verdichtung und atmosphärische Tiefe.

In sieben vielschichtigen Tracks entsteht ein musikalischer Zyklus, der existenzielle Themen wie Leben und Tod, Hoffnung und Verzweiflung behandelt. Die Band setzt auf subtile musikalische Mittel – sphärischer Post-Rock trifft auf progressive Elemente, ohne in genretypische Härte oder plakative Ausbrüche zu verfallen. Stattdessen dominieren meditative Klanglandschaften und ein feinfühliges, organisches Storytelling. Die Texte in ukrainischer Sprache sind Ausdruck kultureller Selbstbehauptung und verleihen dem Album zusätzliche Authentizität. „Litera“ ist konzeptionell zyklisch angelegt und folgt einer symbolischen Reise durch Naturelemente und emotionale Zustände. „Heute wird oft behauptet, das Album-Format sei überholt“, erklären die Musiker. „Wir sehen das anders – auch wenn es stimmt, dass Alben mitunter nur noch aus zusammenhanglosen Songs bestehen – und haben uns bewusst für den klassischen Weg entschieden: eine kohärente, vielschichtige Geschichte zu erzählen, sowohl musikalisch als auch textlich. Im Kontext von Natur und Jahreszeiten leben viele Ukrainer weiterhin mit dem Gefühl des Winters 2022 – als wäre die Zeit eingefroren, als hätte der Schnee nie getaut, obwohl sich die Erde weitergedreht hat und Frühling, Sommer und Herbst nicht verschwunden sind.“

VØVK wollten tiefer in diese kollektive Empfindung eintauchen – ein einzelner Song hätte dafür nicht ausgereicht. „Die Natur folgt einem Kreislauf: Dürre und Feuer, Wasser und Eis. Und genau so erleben sie auch ihre Kriegserfahrungen – als eine Abfolge von Erschöpfung, Wutausbrüchen, Reinigung, neuer Hoffnung und der Rückkehr alter Ängste.“ Diesen Weg stellen sie als ein miteinander verwobenes Ganzes dar und lassen dem Zuhörer Raum, diesen Zyklus auf individuelle Weise zu durchleben. Das Album verzichtet auf direkte Kriegsreferenzen, doch seine Präsenz ist durchgehend spürbar. VØVK kommunizieren über Metaphern und vermeiden die Konfrontation: „Für einen ukrainischen Zuhörer, der täglich unter den Folgen des Krieges leidet, kann es irritierend sein, ihn direkt zu benennen“, erklären die Musiker. „Der Krieg ist Realität – es bringt wenig, das Offensichtliche zu wiederholen. Stattdessen streben wir etwas Therapeutisches an.“ Die Band bedient sich geopoetischer Bildwelten: Landschaften, Erde, Feuer, Wasser, Weizen, Tiere. „Diese Symbole sagen oft mehr – über Schmerz, über Erschöpfung, über Hoffnung. Sie ermöglichen es dem Zuhörer, nicht nur zu hören, sondern auch zu fühlen, sich etwas vorzustellen. Emotionen zu teilen, die unter der Oberfläche liegen und sich nicht immer bewusst verarbeiten lassen.“

Es ist, als würden sie aus dem Innersten der Band hervorgeholt – und zugleich aus dem Innersten des Zuhörers. Gleichzeitig war es VØVK wichtig, keine Momentaufnahme zu schaffen. Ihr Ziel war es, den Geist der Entstehungszeit einzufangen und die Songs so facettenreich zu gestalten, dass sie auch in anderen Lebensphasen nichts von ihrer Relevanz verlieren. VØVK realisieren dies in der kleinen Besetzung von lediglich drei Mitgliedern: „Rush hat einst bewiesen, dass man als Trio komplexe, strukturierte und dennoch songorientierte Musik erschaffen kann. Das erhöht sowohl die Verantwortung als auch das Gefühl, dass auf der Bühne nicht nur drei Musiker stehen, sondern drei Persönlichkeiten. Eine kleine Besetzung ist zweifellos eine Herausforderung – besonders bei vergleichsweise komplexer Musik. Doch sie erlaubt jedem von uns, seinen Raum vollständig auszufüllen und auf eigene Weise zu glänzen. Gleichzeitig zwingt sie uns, einander wirklich zuzuhören. Jede Note zählt, niemand kann sich verstecken. Diese Verletzlichkeit ist aufregend – sie lässt die Musik atmen.“

Wo ihr musikalisches Schaffen einzuordnen ist, spielt für die Band aus Kiew eine untergeordnete Rolle: „Wenn Musik aus Emotionen entsteht, ist es schwer, sie in Genres zu fassen“, so VØVK. „Für uns steht fest: Wir schreiben Songs in der Form, die unsere Gefühle und Leidenschaften am besten transportieren – erst danach können andere Kategorien vergeben werden. Im Moment sieht unsere Mischung so aus: unkonventionelle Strukturen, bedeutungsvolle Texte, viele ungewöhnliche Taktarten aus dem Prog und die rohe Nervosität und Intensität des Old-School-Post-Hardcore. Nichts ist von Dauer, aber aktuell fühlen wir uns zwischen den Genres sehr wohl.“ Den Zugang zu ihrem eigenen Schaffen beschreibt das Trio mit einem prägnanten Begriff: Geordnetes Chaos. „Für uns ist Musik der Versuch, die Wildheit und Mystik der Welt einzufangen – und dem Hörer zugleich einen Schlüssel zu diesem Chaos zu reichen. Wir versuchen, einen kostbaren Edelstein zu formen – solide und transparent, der je nach Lichteinfall unterschiedliche Funken reflektiert. Er lädt den Zuhörer dazu ein, mit jeder Drehung neue Texturen und Schichten zu entdecken.“

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Picture credits: Dmytro Khytryi bzw. Tetiana Horbatiuk