MÜTTERLEIN

„Bring Down The Flags“ klingt durchgängig unbequem und verstörend bis zermürbend. Oftmals ist kaum von mehr als von unwirtlichen Geräuschkulissen, musikalischem Wehklagen und vertonten Urängsten zu sprechen. Der düstere, abstoßende Sound-Kosmos von MÜTTERLEIN erlangt dennoch einen fesselnden Reiz.

„Lange Zeit habe ich in einer Post-Metal-Band gespielt, bis mein Solo-Projekt MÜTTERLEIN im Jahr 2014 zu meinem Hauptprojekt wurde“, führt Marion Leclercq (ex-Overmars) ein. „Ich hatte das Bedürfnis, Dinge auszudrücken, die ich nur ausdrücken kann, weil ich allein bin, und die ich anfangs mit niemandem teilen wollte. Dieses Projekt begann heimlich und sollte gar nicht öffentlich werden. Es ist ein sehr bescheidenes Projekt, da es nur mich betrifft und ich mein Bestes gebe, um mich auszudrücken, was im Allgemeinen nicht meine Spezialität ist.“ Die Musikalität des Projekts gleicht deshalb einem Such- und Findungsprozess: „Es geht definitiv mehr darum, der Kreativität freien Lauf zu lassen“, bestätigt die Französin. „Ich versuche, dem Gefühl treu zu bleiben, mit dem ein Song beginnt. Wenn ich anfange, einen Song zu schreiben und aufzunehmen, weiß ich gemeinhin nicht, wohin er mich führen wird. Mein Schreibprozess für MÜTTERLEIN ist eine freie Assoziation von Ideen, die dem Bedürfnis nach einem Ventil entsprechen.“

Für Marion ist klar, dass sie alleinverantwortlich arbeiten muss: „Ich sage nicht, dass es einfach ist, aber es fühlt sich wichtig an. Es fällt mir leichter, mich hinter einem selbstbewussten Freund oder einer talentierten Band zu verstecken. Am liebsten würde ich auf MÜTTERLEIN jeden Tag verzichten. Vielleicht wird mir das eines Tages möglich sein. Das wäre dann der Zeitpunkt, um MÜTTERLEIN zu begraben.“ Bis dahin aber wird die Multi-Instrumentalistin und Sängerin aus der Bretagne weiterhin beängstigende, bedrohliche Sounds erschaffen: „Ich verstehe diese Vorbehalte, aber ich kann nicht kontrollieren, wie meine Musik klingt“, entgegnet die Künstlerin. „Meine Musik entsteht aus meinen persönlichen Erfahrungen. Ich habe keine Kontrolle über ihre Wirkung auf Hörer. Wenn du apokalyptisch und nihilistisch sagst, höre ich vielleicht Selbstmord und Absurditäten.“ Der Blick auf ihr Schaffen ist auch für Marion nicht eindeutig: „Für mich zeigt sich darin eine Vielzahl unterschiedlicher Empfindlichkeiten. Ich persönlich hasse es, über meinen Geschmack zu diskutieren, weil er so weit jenseits der Reichweite des Denkens liegt. Das ist eine Sache, die ich an der Kunst im Allgemeinen liebe. Man liebt sie, man hasst sie oder man gibt sie auf.“

Welche Wirkung „Bring Down The Flags“ auf sie hat, weiß die Französin aber genau: „Für mich klingt es wie meine persönliche Hölle. Es ist sehr schwer für mich, das zu sagen. Es ist das Ergebnis meines experimentellen Songwriting, mit einer Mischung aus verschiedenen Einflüssen. Ich weiß nicht, wie das nächste Album klingen wird, aber ich liebe die heftigen Industrial-Sounds und den Workflow der Maschinen. Ich denke, dass das sehr gut zu meinen inneren Obsessionen passt.“ Hinsichtlich des Umgangs mit den Anti-Sounds kommt der Lautstärke und dem physischen Erleben eine wichtige Rolle zu: „Ja, das ist wahr“, stimmt Marion zu. „Lautstärke und Physis sind sehr wichtig für MÜTTERLEIN. Gerade die neuen Songs erfordern deswegen auch ein neues Live-Set-up, an dem ich schon gearbeitet habe, als ich das Album fertigstellte. Ich möchte mich auf den Industrial und die mechanischen Aspekte der Musik konzentrieren und den Menschen hinter den Maschinen so weit wie möglich auslöschen. Zu diesem Zweck habe ich neue Versionen meiner älteren Songs komponiert. Und wie bei jedem Heavy-Projekt gilt: je lauter, desto besser!“ Für ihr Zweitwerk hat die Musikerin mehr denn je experimentiert, was sich in vielen neuen Eindrücken und Klängen äußert:

„Ich habe in den letzten Jahren viel neues Equipment gekauft, vor allem Maschinen und Keyboards, die ich vorher noch nicht benutzt habe“, erzählt die Künstlerin. „Ich habe auch viel in Aufnahme-Equipment investiert, so dass das Schreiben und Aufnehmen völlig miteinander verschmolzen sind. Das hat mir erlaubt, viel mehr zu experimentieren und mich von vielen technischen Zwängen zu befreien.“ Im finalen Track von „Bring Down The Flags“ wird das besonders deutlich: „,Requiem‘ ist der Song, der für mich die meisten Grenzen überschreitet“, freut sich die Künstlerin. „Die Herausforderung in all meinen Songs besteht darin, die organischen und elektronischen Texturen zu vermischen. Ich mag es, wie ,Requiem‘ gleichzeitig mit dem Kanon von Metal und Clubbing spielt, und wenn ein Song mich dazu bringt, gleichzeitig zu headbangen und zu tanzen. Ich möchte, dass mein ganzer Körper in den Hörprozess einbezogen wird. In Zukunft würde ich gerne versuchen, alle Grenzen niederzureißen. Aber, wie gesagt, ich habe keine Kontrolle darüber. Am Ende des Tages bin ich nur ein weiterer verrückter Songwriter.“

Da fehlt aber das „Singer“, denn eines sollte man bezüglich MÜTTERLEIN wissen: „Die Texte stehen bei mir immer an erster Stelle. Ich sehe meine Musik als Soundtrack zu den Worten, die ich ausspucken muss. Die Struktur meiner Songs wird von den Texten diktiert. Manchmal schalte ich den Gesang danach stumm, aber er steht immer an erster Stelle. Das Schreiben von „Bring Down The Flags“ war wie ein Trauerprozess. Es ist ein sehr wichtiges Album für mich, weil es mir geholfen hat, einige schmerzhafte Dinge zu verarbeiten und zu begraben. Oft dachte ich, dass ich es nicht durchstehen würde. Aber es brachte mir eine Art Abschluss, der es mir ermöglichte, zur nächsten Sache überzugehen.“

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