Schön und fordernd zugleich – so klingen die Veröffentlichungen des britischen Quintetts. ROLO TOMASSI sind keine Band, deren Musikalität sich schnell erschließt. Doch Konzentration und Zeit sind in ihrem Fall lohnend investiert. „Where Myth Becomes Memory“ heißt der neueste Streich der ungemein experimentierfreudigen, stets vorwärts gerichteten Post-Hardcore-Kombo. Dieses Mal gibt es neben den gewohnten Zutaten – Mathrock, Prog-Rock und Noise – auch eine deftige Industrial-Kante.
Die Musiker haben seit ihrer Gründung im Jahr 2005 eine beeindruckende Entwicklung genommen. Zunächst waren da viel Chaos, Komplexität und unstete Extremkost. ROLO TOMASSI klangen von jeher reizvoll, wenn auch anfangs schwerverdaulich und fragmentarisch. Die Briten haben schnell gelernt, bewusster zu komponieren. Sogleich gab es ansehnliche Dynamik und Spannung sowie Eindruck schindende Kontraste. Nachdem der Band-Sound klarer angelegt und besser ausbalanciert wurde, ging es Schlag auf Schlag. Mund-zu-Mund-Propaganda einerseits, clever gewählte Tour-Slots andererseits mehrten den Ruhm des Quintetts. Parallel dazu haben Frontfrau Eva Spence, ihr Bruder James (Keyboard und Vocals) & Co. ihr musikalisches Antlitz immer markanter und eigenständiger aufgebaut. Nach der Veröffentlichung des 2018er „Time Will Die And Love Will Bury It“ gab es nicht nur reichlich überschwängliches Lob, sondern auch Touren mit Größen wie Faith No More, Biffy Clyro, The Dillinger Escape Plan, Architects, The Bronx und Gojira. Sofern man sich den kreativen Querschnitt der Genannten vorstellen kann: in etwa so klingen ROLO TOMASSI.
Der breite Anklang über unterschiedlichste Hörerlager hinweg und die große Wertschätzung, die seiner Band entgegengebracht werden, beeindrucken James Spence allerdings nicht: „Ich finde es überhaupt nicht beängstigend“, entgegnet er. „Ich würde eher sagen, dass es ein Kompliment ist. Unser Ziel ist es, Musik zu machen, die unserem persönlichen Musikgeschmack entspricht. Und wir haben das Gefühl, dass wir das erreichen.“ Das klingt nach Understatement, aber auch sehr sympathisch. Überhaupt hat man es mit einer Band zu tun, die sich selbst nicht zu wichtig sind, sondern ihre Musik für sich sprechen lässt. Damit dies gelingen kann, muss jedoch der Team-Spirit stimmen: „Die Chemie, wie sie aktuell vorherrscht, ist die beste, die es bei uns je gab“, freut sich der Keyboarder und Shouter. „Während unserer 17-jährigen Geschichte hatten wir einige Besetzungswechsel. Diese waren notwendig, weil wir sicherstellen mussten, dass die Chemie innerhalb der Band so funktioniert, wie sie sollte. Die Philosophie ist dabei immer die gleiche geblieben. Wir arbeiten hart und als Team.“ Auf den Kreativfortschritt haben sich die Veränderungen allenfalls befruchtend ausgewirkt. Zumal der Kern des Quintetts unverändert blieb. Sich von anderen Musiker:innen beeinflussen zu lassen und nicht ausschließlich in sich selbst hinein zu hören, ist bei ROLO TOMASSI an der Tagesordnung:
„Für mich ist es eine Mischung aus diesen beiden Dingen“, erwidert der Brite. „Wir lassen uns direkt von vielen anderen Künstlern und Musik beeinflussen, aber auch von unseren eigenen Stimmungen und Erfahrungen. Die Dualität der Atmosphären auf dem Album ist für uns wichtig. Wir wollten, dass dieses Album kühn und schön klingt und gleichzeitig den Stil beibehält, für den wir bekannt sind.“ Das ist dem Quintett gelungen. Von wem „Where Myth Becomes Memory“ stammt, steht außer Frage. Und dass man wieder viele neue Akzente entdecken und spannende Einfälle nachempfinden kann, ebenso: „Wir alle haben einen sehr hohen Anspruch an die Musik, die wir schreiben“, erklärt James. „Bei diesem Album haben wir aber nicht so viel Druck verspürt, da wir wussten, dass wir wegen der Pandemie mehr Zeit zum Schreiben haben würden. Die Reaktionen auf unser letztes Album haben uns für unsere Arbeit noch mehr Selbstvertrauen in den Schreibprozess gegeben. Wir fühlten uns wohler dabei, Risiken einzugehen und dem, was wir tun, neue Dimensionen hinzuzufügen.“
Eruptive, expressive Passagen sind der eine Teil der Musikalität von ROLO TOMASSI. Schöne, schmeichelnde Parts zwischen Shoegaze und Dream-Pop gibt es aber ebenso; auch mannigfaltige Abstufungen und Zwischenklänge. Anders formuliert: die Gruppe aus Sheffield lädt zur nächsten Abenteuerreise: „Ich denke, für uns muss es immer ein Gleichgewicht zwischen der Beibehaltung unseres bestehenden Sounds und seiner Weiterentwicklung geben“, versucht sich der Keyboarder und Sänger an einer Einordnung. „Wir sind immer bestrebt, uns weiterzuentwickeln und neue Elemente hinzuzufügen. Letztendlich haben wir aber wieder einfach angefangen, zu schreiben und die Musik ganz natürlich entstehen lassen. Würden wir versuchen, sie zu erzwingen, würde sie eingebildet und unnatürlich klingen.“
Das tut sie gerade nicht, auch wenn es viele Brüche zu verdauen gilt, was die verwandten Stile, die Verschiebungen von Intensität und Schweregraden oder das Auf und Ab der vertonten Gefühle anbelangt. Was hinsichtlich der Gewichtung von Eingängigkeit und schroffer Bratzigkeit die Oberhand erhält, ist nicht eindeutig: „Ich denke, die neuen Songs treiben beide Extreme so weit wie noch nie zuvor“, fasst es James. „Das ist etwas, was wir auf jeder Platte gemacht haben. Die Schwierigkeit besteht darin, es über ein ganzes Album hinweg kohärent klingen zu lassen, aber ich denke, das ist uns gelungen.“ Auch deshalb, weil die Briten sowohl versierte als auch bewusst agierende Songwriter sind. Nicht der technische Aspekt steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern der organische Sound-Fluss und das Gesamtbild: „Ja, natürlich“, stimmt der Keyboarder zu. „Ich bin kein Fan von Musik, die um ihrer selbst willen technisch ist. Es gibt nur so viel, was man dem Hörer bieten kann. Es ist nicht schwer, jemanden zu beeindrucken und herauszustellen, wie gut man sein Instrument spielt. Doch Musik, die zu technisch angelegt ist, lässt mich inzwischen überwiegend kalt. Unser Ziel ist es, uns selbst herauszufordern. Musik zu schreiben, die ehrlich ist. Es wäre arrogant zu sagen, dass wir unser Publikum herausfordern wollen.“
Angesichts der Tatsache, dass ROLO TOMASSI den Blickwinkel auf ihr Schaffen mit jedem Album verändern und ihr Spiel kontinuierlich um neue Akzente erweitern, kann man aber schon auf diesen Gedanken kommen. Auch „Where Myth Becomes Memory“ bietet wieder neue Eindrücke: „Wir sind auf diesem Album viel mehr in Richtung Industrial und elektronische Klänge gegangen“, bestätigt James. „Vor allem bei Tracks wie ,Labyrinthine‘ und ,Drip‘. Es gibt viele elektronische Drum-, Synthesizer- und Vocal-Effekte, die sich von denen des letzten Albums abheben. Während des Schreibprozesses nehmen wir viele Demos auf, damit wir unsere Ideen immer wieder überprüfen und sicherstellen können, dass sie alle auf einem ähnlichen Niveau entwickelt sind. Unser Produzent Lewis Johns ist während dieses Prozesses sehr hilfreich. Es ist großartig, eine Perspektive von außen zu haben und sich von ihm beraten lassen zu können. Es ist zudem wichtig, Pausen zu machen, wenn man in Sackgassen gerät. Etwas Kreatives zu erzwingen, führt nie zu guten Ergebnissen.“
Vor dem Hintergrund der Lernkurve und des Reifeprozesses, den ROLO TOMASSI über die 17 Jahre ihres Bestehens genommen haben, überrascht es nicht, dass die Briten inzwischen perfekt ausbalanciert aufspielen und allein dramaturgisch wertvolle Songs im Programm führen. Darin drücken sich das gewachsene Selbstverständnis, aber auch der breite Erfahrungsschatz der Band aus: „Ich denke, es ist wirklich beides“, stimmt James Spence, der neben seiner Schwester, Sängerin Eva, das zweite verbliebene Gründungsmitglied ist, zu. „Mit der Entwicklung unseres Geschmacks entwickelt sich auch unser Sound. Während des Schreibprozesses habe ich viel mehr zeitgenössische klassische Musik gehört, was meiner Meinung nach eine wichtige Rolle gespielt hat. Ich glaube auch, dass dies etwas war, was wir auf der letzten Platte eingeführt haben und worauf wir dieses Mal ganz natürlich aufbauen konnten.“ „Where Myth Becomes Memory“ klingt sowohl songdienlicher angelegt als auch zusammenhängender, was den Gesamteindruck anbelangt: „Ich habe das Gefühl, dass wir einen Schritt nach vorne gemacht haben, was die Komposition im Allgemeinen angeht und wie wir ein Album strukturieren können“, äußert der Keyboarder. „Der Einstieg unseres neuen Schlagzeugers Al Pott war aus kreativer Sicht sehr wichtig. Für mich klingt das Album kohärent und ich habe das Gefühl, dass wir unseren eigenen Stil gefunden haben. Ob das aber wirklich „ein Stil“ ist, steht vielleicht auf einem anderen Blatt. Doch es klingt auf jeden Fall nach ROLO TOMASSI!“
Zu benennen, was man sich darunter vorzustellen hat, bereitet dem Musiker Schwierigkeiten: „Wenn ich versuchen müsste, die Band einem Genre zuzuordnen, würde ich sagen, dass wir eine progressive Post-Hardcore-Band sind. Ich hasse es, unsere Musik in eine Schublade zu stecken, und ich mag auch keine Sub-Genres. Doch ich denke, das ist es in etwa. An diesem Punkt werden wir verstanden. Für jeden, der daran interessiert ist, unsere Entwicklung zu sehen, haben wir genug Material in der Hinterhand.“ Interesse müssen Hörer mitbringen, denn ein Selbstläufer ist die Auseinandersetzung mit dem Output des Fünfers aus Sheffield nicht. Das schnelllebige Umfeld mit seiner Gier nach unmittelbarer Bedarfsbefriedigung und kurzen Aufmerksamkeitsspannen ängstigt ROLO TOMASSI nicht: „Wir haben das Gefühl, dass unsere Musik am besten im Format eines Albums präsentiert wird und die volle Aufmerksamkeit des Hörers erfordert“, erwidert James als Antwort auf diese Überlegung. „Manchmal ist es sogar schwierig, Singles auszuwählen, weil ich denke, dass alle Stücke im Kontext eines Albums gehört werden müssen. Als Musikfan bin ich immer noch jemand, der sich die Zeit nimmt, sich etwas vollständig anzuhören. Und ich bin der Meinung, dass man das braucht, um etwas voll und ganz zu würdigen. Ich weiß, dass ich damit nicht allein bin, und ich bin dankbar, dass die Leute, die unsere Band mögen, höchstwahrscheinlich Gleichgesinnte sind.“ Der Brite findet überall Inspiration. Auch deshalb, weil sich seine Interessen verschieben:
„Es ist schwer zu sagen, wonach ich suche, weil es sich so regelmäßig ändert. Manchmal ist es ein bestimmter Keyboard- oder Synthesizer-Sound. Manchmal sind es Akkord-Wechsel, die Intervalle zwischen den Noten oder die Art und Weise, wie jemand ein Wort ausspricht, wenn er singt. Im Moment lasse ich mich von Hania Rani und Büşra Kayıkçı inspirieren. Beide sind Pianistinnen, die eine ähnliche Art eines zeitgenössischen klassischen Stils spielen, aber jeweils ihren eigenen unverwechselbaren Klang haben.“ Doch vor allem die Arbeit an „Where Myth Becomes Memory“ hat James durch die letzten Monate geholfen: „Für mich war es eine Orientierung in einem Jahr, in dem ich während einer Pandemie größtenteils nicht normal leben konnte. Ich war sehr dankbar dafür, dass ich das Album hatte, das mich durch die Zeit gebracht hat. Wir liefern unser bisher umfangreichstes und kreativstes Werk ab. Besonders gut gefallen mir die Songs ,Mutual Ruin‘ und ,Closer‘. Beide besitzen Klavier-Arrangements, die meiner Meinung nach die besten sind, die ich zu unserer Band jemals beigesteuert habe, und die der Musik, die mich inspiriert, am nächsten kommen. Ich freue mich darauf, sie mit allen Hörern zu teilen.“