TESSERACT

Das Vorgehen der Briten als Gegenentwurf zur schnelllebigen Moderne mit einhergehender Informationsflut zu beschreiben, greift zu weit. Und doch treten TESSERACT den Beweis an, dass Gruppen nicht permanent veröffentlichen müssen, um im Gespräch zu bleiben. Qualität geht dem Quintett vor Quantität. Das gilt sowohl für das Album „War Of Being“ an sich als auch die Inszenierung rundherum – cineastische Clips und ein Video-Spiel inklusive.

Heutzutage ist alles sehr schnell“, weiß Amos Williams (Bass, Produzent, Mastermind). „Viele Bands fühlen sich der Erwartung ausgesetzt, nach jedem neuen Album zwei bis zweieinhalb Jahre zu touren und dann direkt das nächste Album herauszubringen. Für viele Gruppen scheint das gut zu funktionieren. Etliche meiner Freunde arbeiten exakt so und sind damit zufrieden. Einige von ihnen haben bereits zehn Platten veröffentlicht, was imposant ist. Dennoch muss man so ehrlich sein, zu sagen, dass sie nicht immer ihre beste Leistung geboten haben, denn sonst hätten sie ihre Zeitpläne nicht einhalten können. Um den Zyklus am Laufen zu halten, sind sie Kompromisse eingegangen. Für TESSERACT kommt dies nicht infrage. Wir haben schon immer eher langsam gearbeitet. Die Entwicklung der Band ist dadurch vielleicht ausgebremst worden, doch wir folgen nun einmal unserem Gefühl und wissen am besten, wann wir Veröffentlichungsreife erreicht haben. Unsere Gruppe wird niemals Album nach Album innerhalb kurzer Zeit, beispielsweise nach jeweils zwei Jahren, herausbringen. Das schaffen wir schlicht nicht.“

Für die Briten ist es daher das optimale Vorgehen, sich rar zu machen und dann umso stärker zurück zu melden: „Die Leute sind happy, wann immer es wieder etwas Neues gibt“, freut sich Amos. „Ich hoffe, dass die Leute die harte Arbeit, die wir in „War Of Being“ gesteckt haben, hören und anerkennen. Für mich steht es außer Frage, dass sich die Wartezeit gelohnt hat. Wer uns kennt, weiß, dass wir die Songs zunächst selbst entdecken und ausarbeiten müssen. Zeit ist nicht alles. Es würde mich freuen, wenn sich andere Bands ein Beispiel daran nehmen und ebenfalls erkennen, dass man sich nicht nach den Regeln der Industrie richten muss, sondern es auch anders geht. Eigentlich ist es die Aufgabe der Industrie, die Künstler zu unterstützen. Doch viele denken, es sei genau anders herum.“ Auffällig sind die düstere Ästhetik von „War Of Being“, die sich auch durch die begleitenden Medien – Clips, Video-Spiel – ziehen: „Ich bin mir nicht ganz im Klaren darüber, ob es eine Auswirkung der Pandemie ist oder das Ganze erst so richtig in den Fokus gerückt hat: viele der düsteren Stimmungen, die wir durchlebten, haben in die Songs Einzug gehalten“, überlegt der Bassist. „Innerhalb von TESSERACT gab es schon immer diese Tendenzen – weniger nihilistisch, als vielmehr fatalistisch – die nun noch deutlicher zum Vorschein kommen. Wir versuchen, jeden Moment auszukosten. Jedes Mal, wenn wir auf einer Bühne stehen, geben wir alles, weil es das letzte Konzert sein könnte, das wir spielen – warum auch immer. Darin drückt sich vielleicht das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit aus. In unseren Leben hat es etliche Schicksalsschläge und überraschende Wendungen gegeben. Das haben wir stets im Hinterkopf. Unsere letzte Tour vor der Pandemie haben wir in der Ukraine gespielt. Selbst wenn bei uns unterbewusst mitschwingt, dass alles endlich ist, erfährt dieser Gedanke doch eine ganz andere Qualität, wenn das eine mögliche Realität wird. Denk nur an die Pandemie: anfangs wirkte alles sehr gefährlich und extrem. Das Auftreten dieser Pandemie in der Moderne hat alle unvorbereitet getroffen und umgehauen. Zunächst musste man lernen, damit umzugehen, dass das Leben tatsächlich morgen vorbei sein könnte. Als Künstler hat mich positiv überrascht, wie robust und findungsreich die Antwort der Kunst-Szene gewesen ist. Das ist umso wichtiger, weil die Kosten nach der Pandemie so unsagbar in die Höhe geschossen sind. Alles ist um ein Vielfaches teurer, aber das gilt nicht allein für Benzin, Merchandise und Tickets. Für die persönlichen Lebenshaltungskosten gilt das gleichermaßen. Es ist verrückt. Eine Show zu veranstalten, ist 200 Prozent teurer als vor der Pandemie. Das verleitet etliche Bands dazu, weniger zu touren und dafür noch häufiger und in immer kürzeren Abständen neues Material zu veröffentlichen. Insbesondere junge Künstler, die während der Pandemie gestartet sind, wählen diese Taktik. Sich in der Musik-Szene durchzusetzen, war noch nie einfach, ist heutzutage aber nochmal schwerer geworden.“

Klimaschonend von A nach B

Für die britische Band hat sich nichts bis wenig geändert. Amos betont die Vorteile der ungewollten Auszeit: „Als wir mit der kreativen Arbeit gestartet sind, war die Welt gerade zum Stillstand gekommen“, äußert der Kreativkopf rückblickend. „Für uns passte das optimal. Wir haben entschieden, das zu tun, was wir wollen und wie schnell wir es wollen. Andererseits ist das schon immer unsere Maßgabe gewesen, obwohl wir uns nicht immer danach gerichtet haben. Bei den letzten drei Alben von TESSERACT wäre es aus heutiger Sicht besser gewesen, wir hätten uns noch mehr Zeit gelassen. Das ist zumindest mein Gefühl. Bei diesem Album haben wir den Takt komplett vorgegeben. Fünf Jahre später ist „War Of Being“ nun da. Es ist aber nicht so, dass man von uns in all der Zeit nichts gehört hätte. Auch wir haben Streaming-Konzerte gespielt und andere neue Formate ausprobiert. Das war spannend. Ich bin davon überzeugt, dass die Leute nach solchen neuen Optionen suchen und sie gut annehmen – nicht bloß während einer Pandemie. Es liegt an den Leuten und uns Künstlern, das zu definieren und umzusetzen, was für uns funktioniert. Die Industrie wird sich am Ende danach richten. Natürlich erfordert es Selbstbewusstsein, sich zu behaupten und die eigenen Positionen durchzusetzen. TESSERACT haben erst spät gelernt, das zu tun, doch es funktioniert.“ Mit Blick auf die Emissionen und den Ressourcenverbrauch, den Touren verursacht, zeigen sich die Briten reflektiert: „Jedes Mal, wenn ich ein Flugzeug besteige, wünschte ich, ich müsste dies nicht tun“, stellt der Musiker klar. „Wir suchen ganz bewusst nach Möglichkeiten, unsere Touren über Transporte am Boden zu realisieren, wo immer das möglich ist. Sobald man jedoch einen Ozean überqueren muss, geht das nicht mehr. Will man in Nordamerika, Asien oder Australien auftreten, führt am Flugzeug leider kein Weg vorbei. Aktuell scheint mir die Menschheit noch dabei zu sein, nur die Art und Weise der Dinge, die sie tut, zu verändern, aber nicht auf Dinge komplett zu verzichten oder sie zumindest zu hinterfragen. Als Band muss man nach wie vor Europa und Nordamerika betouren; auch Japan und Lateinamerika. Beides geht ohne Flugzeug nicht. Nichtsdestotrotz setzen wir uns für Veränderungen ein und gehen die Dinge anders an, wo immer das möglich ist. Wir beschäftigen uns mit der Frage, welche Optionen bestehen, um von A nach B zu kommen. Die Kosten für Ressourcenverbrauch und Emissionen lassen sich immerhin ausgleichen. Solche Kompensationen sind uns wichtig, wenn wir den negativen Einfluss an sich schon nicht verhindern können.“

Mehr als Musik

TESSERACT ist es ebenfalls wichtig, die eigene Inszenierung und Rezeption maximal mit zu bestimmen. Eine wirkliche Alternative zum elfminütigen Titel-Track von „War Of Being“ als erste Auskopplung gab es dem Grunde nach nicht. Das cineastische Meisterwerk des flankierenden Video-Clips ist de-facto ebenfalls zwingend: „Es hat sich förmlich aufgedrängt, wir hatten keine andere Wahl“, bestätigt Amos. „Dabei spielt auch mit, dass wir unseren Kritikern beweisen wollten, dass nach wie vor mit uns zu rechnen ist. Natürlich gab es grundsätzlich auch andere Optionen, denn das Album setzt sich aus mehreren Songs zusammen. Was die thematische Ausrichtung anbelangt, ist es aber mehr als eine Ansammlung von Stücken. Zugleich präsentieren die Stücke einen langen Entstehungszeitraum, wobei der Titel-Track das mehr als jeder andere ausdrückt. Was die Anzahl der Abrufe anbelangt, ist das Video unser bislang erfolgreichstes. Persönlich finde ich die Frage spannend, ob YouTube ein Kanal ist, den man beim Schreiben von Musik schon mitdenken sollte oder ob es etwas ist, dass als Reaktion auf die Musik zu verstehen ist. Ich komme von dem Gedanken, dass die Musik heutzutage weiter und tiefer reicht als früher. Interessant finde ich, dass ,War Of Being‘ Leute erreicht, die uns bislang noch nicht kannten, ohne dass wir unsere treuer Anhängerschaft verprellen würden. „War Of Being“ ist in seiner Gesamtheit ein immens vielschichtiges Album und Ausdruck dessen, was und wer wir sind. Der Titel-Track, auch wenn er elf Minuten lang ist, repräsentiert eine Facette, gibt aber noch lange nicht preis, was man alles entdecken kann. ,War Of Being‘ ist nicht repräsentativ für den gesamten Longplayer.“ Bei der ersten Auskopplung handelt es sich um das längste Stück. Im Kreativprozess richten sich die Briten stets nach den Erfordernissen des Songs: „Dieses Thema haben wir innerhalb der Band intensiv diskutiert“, entgegnet der Bassist. „Grundsätzlich wäre es uns möglich, schneller zu arbeiten und unsere Songs stärker dem Zeitgeist anzupassen. Wir müssen keine Stücke von mehr als zehn Minuten Spielzeit herausbringen. Doch wir wollen es. Es liegt in der Natur von TESSERACT, dass es bei uns um die neun Monate dauert, bis wir 15 Minuten neue Musik fertiggestellt haben. Bei uns kommt schließlich noch mehr dazu. Unsere Videos sind künstlerisch wertvolle Kurzfilme. Auch das braucht Zeit. Die Bescheidung auf kürzere Tracks von drei bis vier Minuten ist nicht unser Ding. Unsere Hörerschaft kennt unsere Präferenzen. Bei uns geht es stets um Kunst auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Formaten.“

Begeisterung und Energie

Die Rezeption als vorwärts denkende Band kontert Amos lächelnd: „Wir sehen und verstehen unser Schaffen nicht so. Sicherlich existiert eine innere Sicht und Perspektive auf das, was wir sind und darstellen. Doch wir arbeiten keinen Strategieplan ab. Es war nie unser Ziel, progressiv zu sein. Wir sind auch nicht darauf aus, innovativ zu sein. Kategorien wie diese schmeicheln dem Ego, besitzen für uns jedoch keine Relevanz. Auch wenn sie die Entwicklung unserer Band von Anfang an begleiten. Es ist schlicht so, dass wir mit TESSERACT etwas zu erschaffen suchen, das uns bewegt und emotional mitnimmt. Wir wollen Begeisterung und Energie verspüren. Es geht um Intensität und Musik, in der man sich verliert. Darauf sind wir aus, ohne es zwanghaft darauf anzulegen. Ein Nebenprodukt ist es, dass wir als progressiv wahrgenommen werden. Das ist aber nicht unser hauptsächliches Ziel. Ist man stets progressiv nur um der Sache willen, wird es schnell langweilig. Unsere Musik verstehe ich allenfalls in der Hinsicht als innovativ als dass wir neue Möglichkeiten der Präsentation oder Produktion ausprobieren, um etwas Neues zu erreichen. Auf „War Of Being“ finden sich kürzere und weniger technische Stücke, die für mich progressiver sind als andere aus der Vergangenheit, die um einiges komplexer waren. Der technische Aspekt ist nicht alles beziehungsweise verkennt man den technischen Wert von vermeintlich belangloser Musik. Wir schätzen Pop-Musik, deren Songwriting oftmals progressiver ist als das von experimentellen Metal-Gruppen. Pop-Musik kann ungemein fesselnd und animierend sein, so dass man gar nicht mitbekommt, dass man Pop hört. Uns geht es auch darum, Stücke zu schreiben, die sich kontinuierlich entwickeln und deren Passagen sich nicht wiederholen. Gute Songs kommen auf diese Art und Weise zustande – unabhängig vom Genre.“

www.tesseractband.co.uk